„Die Befreiung vom Joch der Arbeit war stets ein Traum der Menschheit. Doch statt uns zu befreien, werden wir immer erschöpfter“, sagt Ökonomin und Politologin Gabriele Michalitsch. Marion Wittfeld sprach mit der Wissenschaftlerin über Neoliberalismus, Patriachat und Prekarisierung.
Teile des Interviews erschienen auch in uni:view, dem Online-Magazin der Universität Wien.
Marion Wittfeld: Frau Michalitsch, Ökonomie und Feminismus – wie gehört das zusammen?
Gabriele Michalitsch: Ökonomie ist eine Artikulationsform von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, also auch von Geschlechterverhältnissen. Kapitalismus und Patriarchat sind ineinander verwoben. Daher ist die Ökonomie, zumal sie Lebensverhältnisse unmittelbar bestimmt, ein wesentliches Feld feministischer Kritik. Die Verteilung von Kapital, Vermögen und Einkommen oder die ökonomische Rationalität, der herrschende Arbeitsbegriff ebenso wie das dominante Ökonomie-Verständnis, das sind zentrale Topoi im feministisch-ökonomischen Diskurs.
Marion Wittfeld: Sie haben kürzlich als Expertin vor dem Gleichbehandlungsausschuss des Nationalrats im Rahmen der Behandlung des Frauenvolksbegehrens gesprochen. Worum ging es?
Gabriele Michalitsch: Bei diesem Hearing wurden vor allem politökonomische Fragen thematisiert. Ich war zur Frage „Macht teilen“ eingeladen und habe versucht kurz darzustellen, was Patriachat bedeutet und dass Quoten alleine nicht ausreichen, wenn Macht tatsächlich geteilt werden soll. Bereits die Bestimmung dessen, was Weiblichkeit und Männlichkeit bedeuten, ist Ausdruck des Patriachats.
Männlichkeit wird in der westlichen Tradition mit Geist, Kultur und Rationalität verknüpft. Auch mit dem Töten – diese Aussage hat im Ausschuss übrigens für ein wenig Aufregung gesorgt, obwohl es doch sehr offensichtlich ist. Im Gegensatz dazu wird Weiblichkeit mit Gefühl, Natur, Körper konnotiert und dem Männlichen untergeordnet. Genau mit dieser Spaltung und Abwertung des als weiblich Codierten in der westlichen Kultur müssen wir uns auseinandersetzen. Dabei geht es nicht nur um Gleichstellung oder Demokratisierung, sondern um Fragen des Überlebens.
Wenn wir die ökologische Katastrophe verhindern wollen, müssen wir grundlegend über unser Verhältnis nicht nur zur Natur, sondern auch zum eigenen Körper und zu unseren Gefühlen nachdenken. Allerdings beträgt die Redezeit vor dem Ausschuss gerade einmal vier Minuten, es gibt keinen Raum für Diskussion, lediglich eine kurze Replik zu den Statements der Abgeordneten ist möglich.
Marion Wittfeld: Wie wurde Ihre Expertise von dem Ausschuss angenommen?
Gabriele Michalitsch: Für mich war es ernüchternd zu sehen, dass auch in diesen Debatten der Stand der Wissenschaft in hohem Maße ignoriert wird. Vieles wird auf persönliche Wahrnehmung oder unreflektierte Empfindung reduziert. Man merkt, dass die Zeichen auch im Nationalrat nicht auf Emanzipation stehen.
Marion Wittfeld: Sie kritisieren Neoliberalismus als vergeschlechtlichte Praxis bzw. vergeschlechtlichtes Konzept. Was sind Ihre Kritikpunkte?
Gabriele Michalitsch: Neoliberale Arbeitspolitik bedeutet beispielsweise Deregulierung der Arbeitsverhältnisse. Damit geht die die Schwächung der Gewerkschaften und die geschlechtliche – und auch rassistische – Spaltung der Arbeitskräfte einher, denn Prekarisierung trifft ja gerade die sozial ohnehin Schwächeren am meisten.
Zudem hat Neoliberalismus Arbeitslosigkeit privatisiert. Mit der neoliberalen Propagierung von Selbstverantwortung in allen Lebensbereichen wurde auch Arbeitslosigkeit als privates Problem redefiniert. Nach dem Motto: Wer arbeitslos ist, ist selbst schuld. Alles wird zur Frage individueller Wettbewerbsfähigkeit. Diskriminierung gibt es im neoliberalen Modell von universellem Markt und Wettbewerb nicht – und auch keine unbezahlte Versorgungsarbeit. Wettbewerb aber ist nichts anderes als eine zivilisierte Form des Kampfes, der tief mit dem dominanten Männlichkeitsentwurf verbunden ist.
Andererseits wird durch den Abbau öffentlicher Dienstleistungen eine Menge unbezahlter Arbeit im Privaten erzeugt. Wenn Spitäler Kosten sparen, indem sie PatientInnen möglichst früh entlassen, dann heißt das ja nicht, dass sie früher gesunden, sondern dass sie zu Hause betreut werden müssen – in der Regel unbezahlt von Frauen.
Marion Wittfeld: Häufig heißt es, durch den Neoliberalismus hätten Frauen die gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt wie Männer, Stichwort: die oder der Stärkere gewinnt …
Gabriele Michalitsch: Der Blick auf die Empirie zeigt, dass Chancengleichheit am Arbeitsmarkt schlicht nicht gegeben ist. Gleichzeitig wird Feminismus vielfach zur Kapitalverwertung eingesetzt. Wenn bei H&M T-Shirts mit der Aufschrift „I’m a feminist“ verkauft werden, was heißt das dann? Natürlich ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, wenn Menschen sich zum Feminismus bekennen, aber eigentlich ist Feminismus eine kollektive politische Praxis. Feminismus kann man oder frau eben nicht kaufen.
Aber gerade um die Bedeutung von Begriffen wird permanent gerungen. Das sieht man auch am Freiheitsbegriff, der im Neoliberalismus grundlegend redefiniert wurde. Mit einem „I’m a feminist“-Shirt wird der Begriff Feminismus kommodifiziert und ausgehöhlt, Feminismus wird zu einem kommerziellen Slogan degradiert. Das ist natürlich auch eine Form von Redefinition. Und eine Form von Individualisierung und Entpolitisierung von Feminismus.
Marion Wittfeld: Heutzutage wird Erwerbsarbeit verstärkt als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung verkauft. Was sagen Sie als Ökonomin dazu?
Gabriele Michalitsch: Die Propagierung von Arbeit als zentralen Referenzpunkt der Selbstdefinition, Stichwort unternehmerisches Selbst, bedeutet letztlich Unterordnung des gesamten Lebens unter die Erwerbsarbeit. Nicht der Lohn ist der Lohn der Arbeit, sondern die Arbeit ist der Lohn der Arbeit. Selbstverwirklichung setzt Entscheidungsfreiheit voraus, doch die ist nur sehr selten gegeben. Die Befreiung vom Joch der Arbeit war stets ein Traum der Menschheit. Doch statt uns zu befreien, werden wir immer erschöpfter – trotz Automatisierung und Digitalisierung.
Marion Wittfeld: Welche Folgen hat das für unsere Arbeit?
Gabriele Michalitsch: Das fördert Anpassung und Gehorsam, das passiviert und entsolidarisiert. Dann werden Niedrigstlöhne, Prekarisierung und Sozialabbau und die Verschlechterung von Arbeits- und Lebensbedingungen widerspruchslos hingenommen. Das erzeugt Ohnmachtsgefühle, Frustration und Aggression, die sich schließlich gegen „die Anderen“ richtet. Hier zeigt sich die Verbindung von Neoliberalismus und Rechtsextremismus.
Nicht nur im Diskurs, auch durch ihre ökonomische Positionierung werden spezifische gesellschaftliche Gruppen zu „Anderen“ gemacht, seien es MuslimInnen, Asylsuchende oder Frauen. Die jeweiligen „Anderen“ werden entdifferenziert, entindividualisiert und gegenüber einem homogenisierten „Wir“ abgewertet. So wird Gesellschaft gespalten, die „Einen“ können dann leicht gegen die „Anderen“ ausgespielt werden. Druck, Frustration und Aggression richten sich dann gegen die sozial schwächeren „Anderen“.
Die Abwertung der „Anderen“ wird zur letzten Quelle vermeintlicher eigener Stärke und Überlegenheit. Insofern verbindet sich Neoliberalismus mit Rassismus, Nationalismus oder Chauvinismus. Das neoliberale Wettbewerbsprinzip kippt in ein sozialdarwinistisches Überlebensprinzip.
Marion Wittfeld: Welche Rolle spielt hierbei die Wissenschaft?
Gabriele Michalitsch: Ich meine, die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, politische und ökonomische Zusammenhänge aufzuzeigen, Kritik zu üben und gefährliche gesellschaftliche Entwicklungen zu verdeutlichen.
Es ist sehr wichtig, dass sich WissenschaftlerInnen in öffentliche Debatten einbringen. Wir leben in einer Zeit, in der der Stand des Wissens in vielerlei Hinsicht negiert wird. Denken Sie etwa an das Verbot der Gender Studies in Ungarn. Auch die Erkenntnisse der Klimaforschung, Ökologie, Medizin oder Pädagogik werden vielfach ignoriert. Gerade wenn alles politisch Unangenehme als Fake denunziert wird, müssen sich WissenschaftlerInnen als Stimmen der Vernunft mehr Gehör verschaffen.
Marion Wittfeld: Gleichzeitig wird es WissenschaftlerInnen nicht leichtgemacht. Die Arbeitsbedingungen an den Universitäten, gerade für den sog. Nachwuchs, sind alles andere als optimal …
Gabriele Michalitsch: Prekarisierung ist auch in der Wissenschaft weit fortgeschritten. Soziale Unsicherheit und die Anbindung an unmittelbare Kapitalverwertung führen, jedenfalls was Wirtschafts- und Sozialwissenschaften betrifft, zu einer entsprechenden Ausrichtung der betriebenen Forschung. Für die Entwicklung einer Gesellschaft ist gerade ihre kritische Reflexion enorm wichtig. Doch die wird selten finanziert. Dabei müssten wir grundlegend über neue Organisationsformen von Ökonomie und Gesellschaft nachdenken, über effektive globale Demokratie und natürlich über die ultimative Überlebensfrage der ökologischen Zerstörung.
Wir haben es jedoch mit einem Finanzierungs- und Wettbewerbssystem zu tun, das vor allem Kritiklosigkeit und Konformität belohnt. Anpassung, Konventionalität, Untertänigkeit des Denkens sind geboten. Kritik und Widerstand fördern keine Karriere. Dabei müssten gerade die WissenschaftlerInnen gegen die Verengung des Denkens durch Prekarisierung und Wettbewerbsprinzip, gegen die Gefahren eines zunehmenden Autoritarismus und neuen Faschismus und gegen die fortschreitende ökologische Zerstörung und die Klimakatastrophe aufstehen.
Marion Wittfeld: Vielen Dank für das Interview!
Zur Person
Gabriele Michalitsch ist Politikwissenschafterin und Ökonomin und lehrt an der Universität Wien am Institut für Politikwissenschaft sowie im Masterprogramm Gender Studies. 2002–2005 war sie Vorsitzende der ExpertInnengruppe des Europarats zu Gender Budgeting. Sie hatte (Gast-)Professuren u. a. in Istanbul, Budapest und Peking inne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische Ökonomie, Feministische Ökonomie und politische Theorien.
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