Umkämpfter Raum. Frauen und Männer in den Bergen

Wer denkt bei gefährlichen Abenteuern, Erstbesteigungen und Gipfelsiegen schon an Frauen? Lange Zeit wurde das Bild von heroischen Pionieren und Männerfreundschaften in den Bergen tradiert – von einer Welt, in der es keine oder kaum Frauen gab. Eine Vorstellung, die sich zu Unrecht hartnäckig hält.

Abb. 1: Gabriel Paccard, Jacques Balmat und Henriette d’Angeville, « La fresque des guides » in Chamonix. Quelle: http://www.a-fresco.com/fresque/fresque-cinemavox/.

Eine „Männerwelt“ in den Bergen?

In den letzten Jahren wurde die Rolle von reisenden und bergsteigenden oder kletternden Frauen verstärkt erforscht und das Bild des vermeintlich männlichen Alpinismus um zahlreiche neue Facetten erweitert.[1] Und doch gelten Bergsteigerinnen noch heute als vereinzelte Ausnahmeerscheinungen. Die Bildwelten, die mit dem Begriff Alpinismus verbunden sind, entsprechen nach wie vor jener einer „Männerwelt“.

Der einseitige Blick auf die Alpenwelt entstand vor allem durch die diskursbestimmende Dominanz der männlichen Akteure. In den historischen Quellen des 19. Jahrhunderts kamen Frauen selten zu Wort. In dieser ungleichen Verteilung der überlieferten Stimmen spiegelt sich eine reale Ungleichverteilung von Einfluss, Mitsprache- und Bestimmungsrecht wider und erschwert das Durchbrechen überholter Vorstellungen. Umso mehr gilt es, die Quellen, in denen sich vorwiegend bürgerliche Männer zu ihren alpinistischen Mitstreiterinnen äußerten, kritisch zu betrachten.

Abb. 2: «La fresque des guides» in Chamonix. Quelle: http://www.a-fresco.com/fresque/fresque-cinemavox/.

Als Touristinnen und Touristen sowie Alpinistinnen und Alpinisten im 19. Jahrhundert die Bergwelt „eroberten“, für sich beanspruchten und vereinnahmten, waren Frauen gleichsam beteiligt. Beispielhaft können hier zwei Frauen einer frühen Phase des Alpinismus genannt werden, die als erste den höchsten Berg Europas, den Mont Blanc, bestiegen, allerdings mit unterschiedlichen Intentionen und Nachwirkungen. Sie sind auch als die einzigen Frauen neben mehreren männlichen Alpinisten in einem Gebäudefresko in Chamonix – dem „Geburtsort“ des Alpinismus – verewigt (Vgl. Abb. 2).

Zwei Frauen, ein Ziel: Marie Paradis und Henriette d’Angeville

Im Jahr 1808 bestieg die Chamoniardin Marie Paradis (1778–1839) ohne alpinistische Vorkenntnisse oder besondere Ambitionen mit einigen Bergführern den höchsten Berg der Alpen. War sie zuvor Magd oder Dienstmädchen gewesen, so konnte sie danach eine Teestube leiten, da Reisende zu ihr kamen, um die Erzählungen ihrer Erlebnisse zu hören. Nachdem diese bergsteigerische Leistung einer Frau, noch dazu einer ‚einfachen Magd‘, viele als Herabsetzung des Berges und der männlichen Leistungen betrachteten, würdigte man nicht Paradis selbst, sondern die Bergführer. Nur dank der Fähigkeiten dieser Männer, die sie angeblich ziehen und schieben mussten, hätte sie es auf den Gipfel schaffen können.[2]

Als „wahre“ Erstbesteigerin des Mont Blanc wurde eine andere Frau gefeiert: die aus einer adeligen Familie stammende Henriette d’Angeville (1794–1871), die dreißig Jahre später den Gipfel erreichte. Ihr war sehr daran gelegen, als erste Frau auf dem Mont Blanc Berühmtheit zu erlangen, was sie zielstrebig verfolgte. Ihrer Kontrahentin sprach sie den Gipfelsieg ab, weil diese nach alpinistischen Kriterien keinen Sinn für die Erhabenheit des Bergsteigens besessen hätte und aufgrund von Nebel gar keinen Gipfelausblick hätte genießen können. Selbigen Disput gab es auch bei den männlichen Mont Blanc-Erstbesteigern Jacques Balmat und Gabriel Paccard.[3]

Abb. 3: Marie Paradis, «La fresque des guides» in Chamonix. Quelle: http://www.a-fresco.com/fresque/fresque-cinemavox/.

Henriette d’Angeville veröffentlichte ihren Gipfelbericht und erlangte als Alpinistin herausragende Berühmtheit, die bis in die Gegenwart nachwirkt. Ihre Bedeutung spiegelt sich im Gebäudefresko in Chamonix aus dem Jahr 2010 wider, wo sie neben Balmat und Paccard in erhabener Pose in ihrem selbst entworfenen Kostüm dargestellt wird (Vgl. Abb. 1). Über die Illustration der Person Marie Paradis‘, die ohne alpinistische Attribute, in hauswirtschaftlicher Betätigung, eher hilflos aus dem Fenster blickt, ließe sich wohl diskutieren (Vgl. Abb. 3). Allein die Tatsache aber, dass sie und Henriette d’Angeville in die Riege berühmter bergsteigender Männer eingereiht werden, zeugt von ihrer Bedeutung.

Die Bergsteigerin als Symbol einer starken „Neuen Frau“

Marie Paradis und Henriette d’Angeville blieben keineswegs Ausnahmeerscheinungen, sondern zahlreiche Frauen beteiligten sich an der sogenannten Eroberung der Alpenwelt.[4] Die französische Höhlenforscherin Gabrielle Vallot (geb. 1856) listete im Jahr 1887 bereits 71 Frauen auf, die bis dahin den weltberühmten Mont Blanc bestiegen hatten. Selbstbewusst verwies sie auf die weiblichen Leistungen im Alpinismus und betonte:

„Es vergeht kein Jahr, in dem nicht mindestens eine Frau auf den Gipfel des Riesen der Alpen steigt“.[5]

Abb. 4: Titelbild der Zeitschrift Femina 182/8 (August 1908).

Begeisterte Alpinistinnen waren Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts weit über die nationalen Grenzen hinaus vernetzt, agierten in alpinen Vereinen, publizierten – wenn auch seltener als Männer – Artikel in Zeitschriften und organisierten gemeinsame Seilschaften und Treffen. Somit konnte ein grenzüberschreitender, internationaler Austausch innerhalb dieser Community stattfinden und ein Wissens- und Ideentransfer wirksam werden. Bergsteigende Frauen wurden in der (männlich dominierten) Presse sowohl zu einer Spottfigur aber auch zum Symbol einer selbstbewussten, starken „Neuen Frau“ (Vgl. Abb. 4) stilisiert, ähnlich wie Schauspielerinnen.[6]

Die Beweggründe dieser Frauen, sich in die Bergwelt zu begeben, waren heterogen. Viele von ihnen kletterten mit ihren männlichen Familienmitgliedern und ordneten sich diesen, das bürgerlich-konservative Frauenbild hochlobend, unter. Andere wollten um der sportlichen Leistungen willen dieselben Berge wie Männer besteigen, bezweckten aber keine gesellschaftliche Gleichstellung. Demgegenüber gab es genauso jene Frauen, die das Bergsteigen lautstark als eine Form der Emanzipation bewarben und selbständig, in Seilschaften ohne Männer die höchsten und schwierigsten Gipfel erklommen.[7]

Abb. 5: Annie Smith Peck mit Schutzmaske gegen die Kälte und aufgemaltem Schnurrbart. Quelle: Die Suffragette als Alpinistin, in: Das interessante Blatt 29.08.1912.

Als die amerikanische Alpinistin und Frauenrechtlerin Annie Smith Peck den Huascarán in den peruanischen Anden mit aufgemaltem Schnurrbart bestieg und ein Banner mit der Forderung nach dem Frauenwahlrecht hisste, kam die Kombination aus Bergsteigen und Frauenbewegung zum Ausdruck. In der Wiener Zeitung „Das interessante Blatt“ urteilte man:

„Aber den englischen Ministern wäre, wenn ihre Suffragettes sich bloß derselben Mittel wie Miß Peck bedienen wollten, um ihrer Begeisterung für die gute Sache Ausdruck zu verleihen, gleichwohl geholfen. Zweifellos würden sie ihnen sogar die Fahnen aus Staatsmitteln beistellen und ihnen die Verwendung sämtlicher hoher Berge der Welt zu Propagandazwecken gestatten“.[8]

Geschlechtergeschichte im Raum

Frauenemanzipation und die Umgestaltung von Geschlechterbildern fanden im und über den alpinen Raum, über die touristische und alpinistische Inanspruchnahme alpiner Landschaften statt. Die komplexen Verstrickungen aus weiblichen und männlichen Erfahrungen der Bergwelten bedürfen einer tiefergehenden Untersuchung. Eine Möglichkeit diese zu erfassen, besteht in der Konzentration auf den gemeinsamen Raum der Alpen und im Blick darauf, wie dieser wahrgenommen und beansprucht wurde.

Am und um den vielgerühmten höchsten Berg Europas, den Mont Blanc, wurde die „Geschlechterfrage“ ausgehandelt. In der vermeintlich authentisch-ursprünglichen Welt des Hochgebirges offenbarten sich Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in ihrer besonderen Brisanz. Frauen drangen in einen Raum ein, der als gefährlicher Naturraum für heroische Männlichkeit stand. In einer Welt, in der „jungfräuliche“ Berge sinnbildlich bestiegen und erobert wurden, hatten Frauen keinen Platz. Doch wirkten die alpinen Landschaften und die Erfahrung extremer Leistungen im Hochgebirge keineswegs nur auf Männer anziehend, sondern verleiteten zahlreiche Frauen zur abenteuerlichen „Eroberung“ der Alpenwelt.

Geschlechtergeschichtliche Perspektiven auf die Alpen als „umkämpften Raum“ sind vielseitig, wurden hier nur in Ansätzen angedeutet und versprechen aufschlussreiche Erkenntnisse und spannende Einsichten. Bei der Betrachtung von Frauen und Männern und wie sie sich ihren Platz in den Alpen eroberten, stellt sich die Frage, welche Rolle die Alpen bzw. Alpenregionen als Bezugsraum hatten. Dabei kann der Raum als „vergeschlechtlicht“ und Geschlecht als „verräumlicht“ in den Blick genommen werden. So kann eine Geschlechtergeschichte des Alpinismus über den raumanalytischen, regionalgeschichtlichen Zugang neue Blickwinkel eröffnen.

Katharina Scharf

Anmerkungen

[1] Siehe dazu u.a.: Ingrid RUNGGALDIER MORODER, Frauen im Aufstieg. Auf Spurensuche in der Alpingeschichte, Bozen 2011; Tanja WIRZ, Gipfelstürmerinnen. Eine Geschlechtergeschichte des Alpinismus in der Schweiz. 1840-1940, Baden 2007; Caroline FINK / Karin STEINBACH, Erste am Seil. Pionierinnen in Fels und Eis. Wenn Frauen in den Bergen ihren eigenen Weg gehen, Innsbruck 2013; Martina GUGGLBERGER, Hg., zeitgeschichte 43/1 (2016). Geschlechtergeschichte(n) des Alpinismus nach 1945; Delphine MORALDO, Gender relations in French and British mountaineering. The lens of autobiographies of female mountaineers, from d’Angeville (1794-1871) to Destivelle (1960-), in: Journal of Alpine Research 101/1 (2013), 1-11.

[2] Vgl. Cécile OTTOGALLI-MAZZACAVALLO, Femmes et Alpinisme. 1874-1919. Un genre de compromis, Paris 2005, 37-40; Charles Durier, Le Mont-Blanc, Paris 1877, 199f.

[3] Vgl. Henriette d’Angeville, Mon Excursion au Mont-Blanc, Paris 1987 ; Dominique ABRY-DEFFAYET, Jacques Balmat, dit Mont-Blanc (1762-1834), in: Christine Détraz / Jean Guibal / Daniele Jalla, Hg., L’homme et les Alpes, Grenoble 1992, 21-23, hier: 71f ; OTTOGALLI-MAZZACAVALLO, Femmes, 38; WIRZ, Gipfelstürmerinnen, 68f.

[4] Vgl. H. BURLINGHAM, Les Grimpeuses de Cimes, in: Femina 01.09.1911, 465f; Mary PAILLON, Première Ascension Féminine de l’Aiguille Méridionale d’Arve, in: Annuaire du CAF 1891, Paris 1892, 50-86.

[5] Gabrielle Vallot, Mes ascensions. Les Femmes Ascensionnistes – La Femme au Mont-Blanc, in: Annuaire du CAF 1887, Paris 1888, 41-49, hier: 48.

[6] Vgl. Clare ROCHE, Women Climbers 1850–1900. A Challenge to Male Hegemony?, in: Sport in History (2013), 1-24, DOI: 10.1080/17460263.2013.826437; Cécile OTTOGALLI-MAZZACAVALLO, Des femmes à la conquête des sommets: Genre et Alpinisme (1874-1919), in: Clio. Femmes, Genre, Histoire 23 (2006), 1-10, DOI: 10.4000/clio.1896; David MAZEL, Mountaineering Women. Stories by Early Climbers, College Station 1994.

[7] Vgl. H. BURLINGHAM, Les Grimpeuses de Cimes, in: Femina 01.09.1911, 465f; Anonym [By a Lady. Mrs. Henry FRESHFIELD], Alpine Byways or Light Leaves. Gathered in 1859 and 1860, London 1961; Mary PAILLON, Première Ascension Féminine de l’Aiguille Méridionale d’Arve, in : Annuaire du CAF 1891, Paris 1892, 50-86; Mary PAILLON. Équipement Féminin, in: Manuel d’Alpinisme du CAF, Paris 1904, 248-256.

[8] N.N., Die Suffragette als Alpinistin, in: Das interessante Blatt 29.08.1912, 5.

By |2019-01-23T14:14:25+01:0015. Dezember 2018|Gesellschaft&Geschichte|0 Comments

Katharina Scharf ist Postdoc für Kultur- und Geschlechtergeschichte an der Universität Graz und arbeitet an ihrem Habilitationsprojekt „Environmental Women“ zur frauen- und geschlechterhistorischen Erforschung der Natur- und Umweltschutzbewegungen. Sie verortet ihre Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Frauen- und Geschlechter, Umwelt-, Tourismus-, Europäische Regionalgeschichte und der Geschichte des Nationalsozialismus. Sie hat Geschichte und Germanistik an der Universität Salzburg studiert. Ihre Dissertation zur Tourismusgeschichte Salzburgs und Savoyens erschien 2021 beim StudienVerlag. Ihre Masterarbeit zur NS-Frauenschaft wurde 2016 mit dem Erika-Weinzierl-Preis ausgezeichnet und 2021 beim Anton Pustet Verlag publiziert. Kürzlich erschien auch der UTB-Band „Europäische Regionalgeschichte“ (mit Co-Autor Martin Knoll).

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