„…the need to redefine and rethink…“ – Die Historikerin Gerda Lerner und der Sprachdenker Karl Kraus

Buchcover "Fireweed" von Gerda Lerner und "Die Sprache" von Karl Kraus

Foto: Katharina Prager

Karl Kraus war kein Befürworter der „Frauenemanzipation“. Dennoch beeinflusste sein Sprachdenken Gerda Lerner, eine der Begründer*innen der Frauengeschichte, in ihrem Bemühen um passende Definitionen, aber auch in ihrer Vision einer gender-neutralen Sprache.

Karl Kraus und die Frauenemanzipation

Der österreichische Satiriker Karl Kraus (1874–1936) setzte sich – besonders in der Frühzeit seiner kultur- und gesellschaftskritischen Zeitschrift Die Fackel[1] – für die Entkriminalisierung von Homosexualität und anderer Formen außerehelicher Sexualität ein und griff in diesem Zusammenhang die „brutale Männermoral unserer Tage“ an.[2] Doch auch wenn er Reformen des bürgerlichen Ehe- und Familienrechts und die Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz forderte, blieb klar: „Ich bin nicht für die Frauen, sondern gegen die Männer.“[3]

Die im Wien um 1900 gleichzeitig stattfindenden Kämpfe um eine Reorganisation der geschlechtlichen Arbeitsteilung, um Mädchenbildung und um die Ausweitung der politischen Partizipationsmöglichkeiten von Frauen stand Kraus im Wesentlichen fern. Er, der die „Freiheit“ weiblicher Sexualität nachdrücklich bejahte und weibliche Promiskuität geradezu verherrlichte, spottete gern über „Frauenemanzipation“, die auf Kosten dieser sinnlichen Weiblichkeit gehen musste.

Auch als grundsätzlich anti-essentialistischer Sprachdenker war Kraus im hegemonialen „modernen“ Geschlechterdispositiv um 1900 verortet, das die Frau als „vernunftloses, sexualisiertes Gattungswesen“ entwarf.[4] Er nahm als „Frauenverehrer“ die „Argumente der Frauenverachtung“ des bekannten Philosophen Otto Weiningers „begeistert“ auf.[5] Weininger hatte in seinem Sensationserfolg „Geschlecht und Charakter“ (1903) zum einen den misogynen Bildungs- und Wissenschaftskanon der Zeit komprimiert, zum anderen eine Trennung von sozialem und biologischem Geschlecht angedacht.[6] Diese Thesen um „psychische Bisexualität“ erkannte auch die Frauenrechtlerin Rosa Mayreder als Chance, die er aber ihrer Meinung nach im zweiten, psychologisch-philosophischen Teil seines Werkes „gänzlich“ annullierte.[7]

Umstritten ist nach wie vor, ob Karl Kraus – der Beziehungen zu gebildeten Frauen pflegte – „die Frau“ zunehmend als ein „ebenbürtiges menschliches Wesen“ annahm oder ob sie für ihn „ein Idol, ein Phantom, ein Totemtier“ blieb.[8] Ebenso strittig ist, wie weit Kraus mit der Kulturkritik der feministischen Szene Wiens 1900 – in der die Annahme von der Komplementarität der Geschlechter ebenfalls dominierte – doch in produktivem Austausch stand.[9] Otto Weininger wurde wiederholt als ein früher Ansatz betrachtet, Geschlecht als soziale Strukturkategorie zu denken, doch Karl Kraus mit der Institutionalisierung von Frauen- und Geschlechtergeschichte in Zusammenhang zu bringen, scheint weit hergeholt – oder nicht?

Gerda Lerners Sprachdenken in der Frauengeschichtsschreibung

Es gibt da einige bekannte – „notwendig maskuline“?[10] – Denktraditionen, die auf Karl Kraus zurückgeführt werden. Zu ihnen gehören unter anderem Wittgensteins Sprachphilosophie, Adornos „kritische Theorie“ oder Schönbergs Harmonielehre.[11] Die „Schülerinnen“ von Kraus werden hingegen oft übersehen. Insofern, wie auch aufgrund misogyner Äußerungen von Kraus, mag es überraschen, dass sich Gerda Lerner (1920–2013), eine „Pionierin der Frauengeschichtsschreibung“,[12] deutlich als seine „Schülerin“ auswies: „[…] meine lebenslange Hingabe an die Sprache ist seinem Einfluss zu verdanken, der sich auch in meinem Schreiben widerspiegelte.“

Die geborene Wienerin Lerner begegnete Krausʾ Werk erst im Jahr 1934, als dieser aus Gründen, die ihr „schleierhaft“ blieben, „die Regierung Dollfuß“ unterstützte, die eben „die Demokratie ausgeschaltet hatte“. Die 14-jährige Lerner engagierte sich zu dieser Zeit als „illegale Sozialarbeiterin“ der kommunistischen Roten Hilfe für Opfer der Februarkämpfe. Sie „verfiel“ aber trotz ihrer „gegenteiligen politischen Überzeugungen voll und ganz“ dem „Bann“ des „Gurus“ Kraus.[13]

In den folgenden zwei Jahren besuchte Lerner „jede“ Kraus-Vorlesung,[14] sie las – „wie alle Kraus-Anhänger“ – „jedes Wort des Meisters“ und „tauchte in sein Werk und seine Gedanken ein“:[15] „Kraus presented a constant challenge – being one of his disciples one learned to watch one’s speech and one’s writing.“[16] Nicht zuletzt hatte Gerda Lerner damals eine ebenso „ernsthafte“ wie „aussichtslose“ Affäre mit einem 42-jährigen, verheirateten „Kraus-Jünger“. Diese Beziehung endete im Frühsommer 1936, als Karl Kraus starb: „Ich ging zu seinem Begräbnis und weinte, als ob ein enger Freund gestorben wäre. Eine Phase meiner Jugend war damit zu Ende.“[17]

Gerda Lerner

Gerda Lerner, o. J. Quelle: Women’s Agenda (März/April 1979, Seite 5)

Krausʾ Einfluss „überdauerte“ die „frühen Verliebtheiten“. Er machte sich nicht nur bemerkbar, als Gerda Lerner nach ihrer Flucht aus Österreich ihren Zugang und ihr Gefühl für die englische Sprache finden musste, sondern auch, als sie 1977 begann, The Creation of Partriarchy zu erforschen.[18] Der Abschnitt „Definitions“ schloss das Buch ab. Darin thematisierte sie die Schwierigkeit inadäquaten sprachlichen Ausdrucks, und erklärte, dass Neudefinition und -benennung Frauengeschichte zugleich ermögliche und begrenze: „[…] the terms do not fit. […] The mode in which abstract thought is cast and the language in which it is expressed are so defined as to perpetuate women’s marginality. We women have had to express ourselves through patriarchal thought as reflected in the very language we have had to use. It is a language in which we are subsumed under the male pronoun and in which the generic term for ‚human‘ is ‚male‘.“[19]

Es erschien Lerner problematisch und wenig sinnvoll, Sprache kurzfristig verändern zu wollen: Worte würden sozial kreiert – „they cannot come to life unless they represent concepts accepted by a large number of people“. Ein technischer Jargon, der nur Eingeweihten verständlich sei, führe zu nichts – um verständlich zu bleiben „our efforts at renaming must be conservative“. Obwohl sie zu sprachlicher Konservativität riet, sah Lerner Sprache durchaus als „indicator of changed conciousness and new thinking“:

„So we must use the language of the patriarchs as we think our way out of partriarchy. But that language is also our language […]. We must reclaim it, transform it, recreate it and in the doing transform thought and language so as to create a new, a common, a gender-free language. For the time being, paying attention to the words we use and how we use them is a way of taking our thought seriously.“[20]

Die Sprache als Ausdruck des Denkens und Empfindens ernst zu nehmen, ihre Regionen, Zauber, Gefahren und Wirkungen zu erforschen und von Sprachreinigung oder -schutz nicht viel zu halten – all das hatte Gerda Lerner bei Karl Kraus erfahren: „Meaning was to be found, as Kraus put it, ‚by tapping along the guiding rope of language‘.“[21] Es ist nicht zuletzt deshalb interessant, dies aufzuzeigen, weil Kraus auch in aktuellen Diskussionen um Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache öfter als „Sprachpolizist“ vereinnahmt wird, der allen sprachlichen Änderungen feindlich gegenübergestanden sei.

Katharina Prager

Veranstaltungshinweis

Am 9. Juni 2016 spricht Katharina Prager beim Zeitgeschichtetag 2016 in Graz über „‚Agency‘ und Akteur*innen im Werk (und Leben) von Gerda Lerner (1920–2013)“. Eine Auswahl weiterer Vorträge beim Zeitgeschichtetag mit geschlechtergeschichtlichem Fokus findet sich im Salon 21.

Anmerkungen

[1] Auch in Folge zitiert: Austrian Academy Corpus (AAC): „Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899-1936“, URL: http://www.aac.ac.at/fackel.

[2] Karl Kraus, Die Fackel 157 (1904), 19; vgl. Edward Timms, Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1874 bis 1918, Frankfurt am Main 1999, 101–112; Nike Wagner, Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, Frankfurt am Main 1982, 117–130.

[3] Karl Kraus, Die Fackel 360/362 (1912), 25.

[4] Andrea Bührmann, Der Kampf um die weibliche Individualität. Zur Transformation moderner Subjektivierungsweisen im Deutschland um 1900, Münster 2004, 50–69; Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“, in: Sozialgeschichte der Familie der Neuzeit Europas, hrsg. von Werner Conze, Stuttgart 1976, 368–393.

[5] Karl Kraus, Die Fackel 169 (1904), 7.

[6] Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, München 1903; Mehr oder Weininger. Eine Textoffensive aus Österreich/Ungarn, hrsg. von Amália Kerekes, Alexandra Millner, Magdolna Orosz und Katalin Teller, Wien 2005; Germaine Greer, The Female Eunuch, London 2006, 119–121.

[7] Rosa Mayreder, Zur Kritik der Weiblichkeit. Essays, Jena/Leipzig 1905, 14–15 und 31–32.

[8] Irene Jansen, Berthold Viertel. Leben und künstlerische Arbeit im Exil, Wien 1992, 109; Eiji Kouno, Die Performativität der Satire bei Karl Kraus: zu seiner „geschriebenen Schauspielkunst“, Berlin 2015, 37–44.

[9] Harriet Anderson, Vision und Leidenschaft. Die Frauenbewegung im Fin de Siècle Wiens, Wien 1994; Edward Timms, Dynamik der Kreise, Resonanz der Räume. Die schöpferischen Impulse der Wiener Moderne, Weitra 2013.

[10] Julia Barbara Köhne, Geniekult in Geisteswissenschaften und Literaturen um 1900 und seine filmischen Adaptionen, Wien / Köln / Weimar 2014.

[11] Vgl. u.a. Peter Winslow, URL: http://www.abitofpitch.com/2-home; Irina Djassemy, Der „Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit“. Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno, Würzburg 2002; Bodil von Thülen, Arnold Schönberg. Eine Kunstanschauung der Moderne, Würzburg 1996.

[12] Gabriella Hauch, „Es gibt keinen Abschied…“ Gerda Lerner zum Gedenken, in: L’Homme. Z.F.G. 24, 1 (2013).

[13] Gerda Lerner, Feuerkraut. Eine politische Autobiographie, Wien 2014, 97–101; Gerda Lerner, Living in Translation, in: dies., Why History Matters. Life and Thought, New York / Oxford 1997, 33–49.

[14] Katharina Prager, Karl Kraus Online. Wienbibliothek im Rathaus / Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie 2015. URL: www.kraus.wienbibliothek.at.

[15] Lerner, Feuerkraut, 100–101.

[16] Lerner, Living in Translation, 36.

[17] Lerner, Feuerkraut, 99–102.

[18] Lerner, Living in Translation, 33–49; zur Flucht vgl. Katharina Prager, Gerda Lerners Flucht und Ankunft, URL: http://gefluechtet.de/wp/2015/08/11/gerda-lerners-flucht-und-ankunft/.

[19] Gerda Lerner, The Creation of Patriarchy, New York / Oxford 1986, 232.

[20] Lerner, Creation of Patriarchy, 231–233.

[21] Lerner, Living in Translation, 36–49.

By |2018-05-24T12:26:16+01:001. Juni 2016|Gesellschaft&Geschichte|1 Comment

Katharina Prager ist Kulturwissenschaftlerin und Historikerin. Aktuell: wissenschaftliche Mitarbeit am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie / der Wienbibliothek im Rathaus (Neuorganisation Karl Kraus-Archiv & Online-Biographie www.kraus.wienbibliothek.at); Forschungsschwerpunkte: Auto/Biographie & Auto-Media Online; Wissens- und Wissenschaftsgeschichte; österreichische Kultur- und Geschlechtergeschichte mit Fokus auf Wien 1900, Exil und Nachkriegszeit.

One Comment

  1. Edward Timms 7. September 2016 at 22:18

    Fascinating new information about Gerda Lerner’s debt to Karl Kraus !

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