In einer kleinen Pension in Zürich fanden ab 1933 zahlreiche Menschen Unterschlupf auf der Flucht vor dem NS-Regime. Lotte Schwarz arbeitete dort als „Dienstmädchen“. Ihr von Historikerin Christiane Uhlig herausgegebener Roman illustriert die Lebensgeschichten von Emigrierten und Untergetauchten.
Im Schweizer Transit warten sie auf ein Visum und die Weiterreise, hoffen auf eine rare Aufenthaltserlaubnis oder leben versteckt aus Angst vor der Ausschaffung ins Deutsche Reich oder später dem Internierungs- oder Arbeitslager: Das unfreiwillige Zusammenleben der Gäste der Pension Comi bildet die Handlung des Romans mit dem Titel „Die Brille des Nissim Nachtgeist“ von Lotte Schwarz.
Die Autorin lässt darin manchen Menschen ihre wahre Identität, andere erhalten Pseudonyme, wie auch sie selbst. Die junge Hamburgerin emigrierte aus politischen Gründen 1934 in die Schweiz, wo sie als Hausangestellte in der Emigrantenpension Comi in Zürich unterkam. Genau wie das „Dienstmädchen Lisette“ im Roman, aus deren Augen wir nach und nach die teils fiktiven Bewohner*innen der Pension zwischen 1933 und 1942 kennenlernen.
„Arche Noah“ Pension Comi
Die Pension Comi hat es tatsächlich gegeben. Sie wurde von Paula und Wolodja Friedmann, einem ehemals selbst geflüchteten russisch-jüdischen Paar betrieben, das vier Kinder hatte. Sie boten ab 1921 Mittagstisch und Gästezimmer für Studierende an, doch ab 1933 gewährten sie den immer zahlreicheren Flüchtlingen Unterkunft und Zuflucht. Die Pension Comi hatte 30 Zimmer in zwei Häusern, die miteinander verbunden waren. In einem Teil des Hauses lebt das Ehepaar Paksman alias Friedman, das im Roman diesen sprechenden Namen erhält.
Die meisten Gäste kamen und gingen, doch einige Bewohner*innen lebten jahrelang in der Comi. Es waren Jüdinnen und Juden, Kommunist*innen und Sozialist*innen, manche waren aus mehreren Gründen verfolgt. Sie wurden in der Pension aufgenommen oder auch versteckt. In den Meldedaten wurde ihr Aufenthaltsstatus in der Schweiz als „vorübergehend“ angegeben. Auch Protagonistin Lisette hofft im Roman, dass es niemandem auffallen würde, dass ihr Pass am Tag nach der Einreise in die Schweiz abgelaufen war.
Verlorene auf dem Floss
Gezeichnet werden in dem Roman Charaktere wie der titelgebende Nissim Nachtgeist, ein deutscher Jurist, der als Schauspieler diesen Künstlernamen gewählt hat. Da er wie alle Flüchtlinge keiner legalen Arbeit nachgehen darf, schreibt er gegen Bezahlung akademische Abschlussarbeiten oder näht heimlich mit seiner Verlobten Schweizer Berufsmäntel. Lisette hilft dem Paar bei der Arbeit. Sie versuchen mehrfach nach Amerika zu entkommen und sitzen buchstäblich auf gepackten Koffern. Doch durch ein Fristversäumnis muss Nissim Nachtgeist die Zeit des Krieges im Internierungslager verbringen.
Er bezeichnet die Comi als einen „Ort der Verlorenen“, doch die Autorin hält dagegen, denn „vielmehr verwandelten die Verlorenen die Comi in ein Floss, das sie über Wasser hielt. Emigration ist die Fahrt mit einem Floss auf einem Meer, von dem keiner weiß, wie groß das Meer und wie lang die Reise“.[1]
„Hoffen, warten, dankbar bleiben“
Die prekäre und psychisch angespannte Situation der Emigration potenziert sich im Haus. Schonungslos werden die Probleme des praktischen Zusammenlebens in der Pension beschrieben, sei es bei der Essensausgabe, beim Benutzen der Sanitärräume oder in Ausnahmesituationen wie einem Brand oder Diebstahl bis hin zu politischen Differenzen, die im Speisesaal ausgetragen werden.
In der Emigration haben die Bewohner*innen „seelische Schwerarbeit“ zu leisten, während sie versuchen, der Forderung des Gastlandes zu entsprechen: „Hoffen, warten, dankbar bleiben“.[2] Dies ist nicht immer leicht, da die Angst um Angehörige oder Freund*innen belastend ist. Dies beschreibt Lisette, deren Bruder Hans im Deutschen Reich verhaftet wird:
„Einen Nahestehenden in Gefahr zu wissen, lähmte Herz und Verstand. Über alle Grenzen hinweg erreichte der Verfolger noch einmal den Entronnenen und schlug ihn mit dieser Schwäche. Mich überkam tiefe Niedergeschlagenheit, wenn ich an Hans dachte.“[3]
Die in den Zimmern der Durchreisenden aufgestellten Fotos zeugen davon, wen sie zurücklassen mussten. Die Liebsten auf diesen Bildern setzen ihre Hoffnung auf Hilfe bei der Ausreise aus dem NS-Reich womöglich auf jene Flüchtlinge, die bereits in Sicherheit waren.
Der eingeforderten Unsichtbarkeit trotzen
Trotz dieser belastenden Situation und des oft widrigen Flüchtlingsalltags legen einige Bewohnerinnen der Pension großen Wert auf ihr gepflegtes Aussehen. Darin werden sie von einer Ärztin unterstützt, die kostenlos Zahnbehandlungen durchführt. Weiters bietet die junge deutsche „Achteljüdin“ Vicky, die schon länger in der Comi lebt, neue Frisuren und Schönheitspflege zu einem günstigen Preis in ihrem Zimmer an.
Die Angebote werden gut angenommen, obwohl weibliche Geflüchtete von den Hilfswerken aufgefordert wurden, vollkommen unscheinbar aufzutreten. Sie sollten nicht als Flüchtlinge auffallen und in der Schweizer Bevölkerung der Eindruck vermieden werden, dass es ihnen zu gut gehe.
Nachdem Herr Paksman 1940 überraschend stirbt, führt Frau Paksman die Pension weiter, verkauft sie schweren Herzens 1942 und alle Bewohner*innen müssen binnen eines Jahres ausziehen. So wie im Roman beschrieben, schien es sich für Familie Friedmann und die Bewohner*innen der Comi tatsächlich zugetragen zu haben.
Autorin Lotte Schwarz: Bibliothekarin, Aktivistin, Emigrantin
Die Autorin Lotte Schwarz, geb. Benett (1910–1971) wuchs in einer sozialdemokratischen Arbeiter*innenfamilie in Hamburg auf. Trotz schulischer Erfolge musste sie zunächst als Hausangestellte arbeiten. Arbeitertöchter hatten qua Geschlecht und sozialem Status kaum Zugang zu gelernten und besser entlohnten Erwerbstätigkeiten.[4]
Ab 1919 besuchte sie die Frauengruppe ihrer Berufsschule und engagierte sich bei den Guttemplern, der Frauenbewegung und den Roten Kämpfern. 1927 bekam sie in der örtlichen Bibliothek, wo sie zuvor als Aushilfe gearbeitet hatte, eine Anstellung und arbeitete dort sieben Jahre. 1934 musste sie in die Schweiz emigrieren, wo sie wieder als Hausangestellte in einer Pension arbeitete.
Sicherheit durch Scheinehe
Ihr Aufenthalt war unsicher, ihre beruflichen Perspektiven beschränkt, weshalb sie erwägte, eine Scheinehe mit einem Schweizer einzugehen. Als formaler Ehemann fand sich der aus einem sozialdemokratischen Umfeld stammende Automechaniker Hans Spengler. Mit der Eheschließung wurde Lotte Benett Schweizerin und konnte nicht mehr ausgewiesen werden.
Da nur Frauen bei der Verheiratung eine neue Staatsbürgerschaft – nämlich jene ihres Ehemannes – bekommen konnten, stellte dies für einige Verfolgte des NS-Regimes eine Möglichkeit eines sicheren Aufenthalts und Zugangs zum Arbeitsmarkt dar. Zu diesem Schritt inspiriert wurde die Autorin vermutlich durch Gabriella Seidenfeld, im Roman als Signora Teresa agierend. Die elegante, kommunistische Jüdin, die als „Freundin des Hauses“ das beste Zimmer bewohnte, war bereits ein Jahr zuvor eine Scheinehe eingegangen.[5]
1938 bekam die nunmehrige Lotte Spengler eine Anstellung als Bibliothekarin am Schweizerischen Sozialarchiv, wo sie zehn Jahre tätig war und zu einer wichtigen Bezugsperson von Flüchtlingen wurde. Sie schrieb über ihre Erfahrungen als Emigrantin, Dienstmädchen und berufstätige Frau, über das fehlende Frauenwahlrecht sowie Architektur und Kunst mit Recyclingmaterialien. Ihr einziger Roman, an dem sie bis zu ihrem Tod 1971 arbeitete, schlummerte fast 50 Jahre im Nachlass.
Engagierte Biographin und Romanherausgeberin
Wir wüssten nichts über das Leben von Lotte Schwarz, hätte sich nicht die Historikerin Christiane Uhlig auf Spurensuche begeben. Sie führte dafür mehrere Gespräche mit Personen aus Lotte Schwarz‘ Umfeld, besuchte Archive und stellte eine fragmentarische Biographie ihres Lebens mit dem Buch „Jetzt kommen andere Zeiten. Lotte Schwarz (1910–1971). Dienstmädchen, Emigrantin, Schriftstellerin“ zusammen.[6] Christiane Uhlig arbeitete an der Universität St. Gallen, war wissenschaftliche Mitarbeiterin der „unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ und für das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich tätig.
In
ihrem Nachwort begründet Uhlig die Entscheidung für die Publikation des Romans mit
dem Aktualitätsbezug: Denn gerade in Zeiten, in denen Geflüchtete wieder als kollektive Bedrohung
gezeichnet werden, sei es wichtig, sich der Individualität der Flüchtlinge bewusst
zu werden. Viele der Rahmenbedingungen für Geflüchtete seien damals wie heute
ähnlich, wie das Arbeitsverbot, prekärer Aufenthalt und die Angst vor den
Folgen drohender Abschiebung in Verfolgerstaaten.
Geschlechterstereotype und ergänzende Informationen
Der Roman ist eine Hommage an die Pension Comi, über die in der Schweizer Zeit- und Exilgeschichte kaum etwas bekannt ist. Die Figuren orientieren sich stark an zeitgenössischen Stereotypen von Weiblichkeit und Männlichkeit; zudem ist Sexualität kein Thema. Ganz im Gegensatz dazu werden im Anhang die realen Personen offenbart und Details ergänzt, die beispielsweise über weitere Scheinehen, die Akzeptanz lesbischer Beziehungen und andere Fakten informieren, über die im Roman lieber geschwiegen wird. Dennoch: In genau dieser Zusammenschau ist die Authentizität dieses kleinen Kosmos von Exilant*innen bewegend und zeigt die Vielfalt des Umgangs mit dem erzwungenen Leben in der Fremde auf.
Schwarz, Lotte (2018): Die Brille des Nissim Nachtgeist. Die Emigrantenpension Comi in Zürich 1921–1942, Herausgegeben von Christiane Uhlig, Zürich: Limmat Verlag.
[1] Schwarz, Lotte (2018): Die Brille des Nissim Nachtgeist. Die Emigrantenpension Comi in Zürich 1921–1942, Herausgegeben von Christiane Uhlig, Zürich: Limmat Verlag, 32.
[2] Schwarz, Brille, 59.
[3] Schwarz, Brille, 61.
[4] Vgl. Wierling, Dorothee (1987): Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin/Bonn: Dietz, 61; Leichter, Käthe (1927): Frauenarbeit und Arbeiterinnenschutz in Österreich, Wien: Verlag „Arbeit und Wirtschaft“.
[5] Mehr zu dieser Scheinehe aus den Briefen von Seidenfeld in: Messinger Irene (2016): Auf der Suche nach Scheinehen in der NS-Zeit, in: DÖW Mitteilungen 3/2016 (225), 6-7.
[6] Uhlig, Christiane (2012): Jetzt kommen andere Zeiten. Lotte Schwarz (1910–1971). Dienstmädchen, Emigrantin, Schriftstellerin. Zürich: Chronos Verlag.
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