Frauen- und Geschlechtergeschichte un/diszipliniert?

un_diszipliniert_buchpraesentation_flyer-001Wo steht die Frauen- und Geschlechtergeschichte heute? Welche Zugriffe und Perspektiven lohnen sich für sie und wo braucht es Neuorientierungen? Diese und andere Fragen behandelt unser fernetzt-Sammelband, den wir am 12.11.2016 um 19:00 Uhr in der Frauenhetz präsentieren. Eingeleitet wird die Buchpräsentation mit anschließendem Umtrunk durch einen Vortrag von Heike Mauer zu „Geschlechterforschung – interdisziplinär und un/diszipliniert?“. Eine Buchankündigung, die Lust zum Diskutieren, Lesen und vernetzen machen soll.

Feministische Geschichtswissenschaft und die Frauen- und Geschlechterforschung blicken auf eine vielfältige, aber auch unterbrochene Tradition zurück. Für die gegenwärtige Frauen- und Geschlechtergeschichte ist es daher wichtig, die eigenen Theorien und Methoden in Frage zu stellen und auf ihren Wertgehalt zu überprüfen. Zudem muss bereits wissenschaftlich Erschlossenes immer wieder re-analysiert werden, um Akteurinnen, die durch Geschichtsschreibung unsichtbar gemacht wurden, erneut sichtbar zu machen.

An diese Debatten knüpft auch der vorliegende Band an. Er versammelt zentrale theoretische und methodische Zugänge und stellt sie in ihrer Anwendbarkeit zur Diskussion. Die interdisziplinär ausgerichteten und international verorteten Beiträge reichen von Arbeiten zu diskursanalytischen Verfahren und Debatten zu Männlichkeit/en bis hin zu intersektionalen Analysen und der kritischen Erforschung von Selbstzeugnissen. Dabei spannen die Studien geografisch einen Bogen von der Türkei bis nach Großbritannien, zeitlich von der Antike bis in die Gegenwart.

Un/diszipliniert miteinander diskutieren

Der Sammelband basiert auf einer Tagung, die wir im Jahr 2012 organisiert hatten:[1] Sie basierte auf der Feststellung, dass es an den Universitäten für viele DissertantInnen wenig Raum gibt, um forschungspraktische Probleme und Fragestellungen ausführlich besprechen zu können. Welcher Methoden bedienen wir uns und wie lässt sich die besondere Herausforderung interdisziplinär orientierter feministischer Geschichtswissenschaft lösen? In welche theoretische Tradition stellen wir uns bzw. stellen wir uns gerade nicht? Welche Kritik kommt in unserer Forschung zum Ausdruck (oder auch nicht)? Was ist der Mehrwert geschlechter- und frauengeschichtlicher Ansätze für das Verständnis (historischer) Gesellschaften, der diese Kritik entspringt?

pickerlAls Forscher*innen am Anfang einer wissenschaftlichen Laufbahn starten wir in ein universitäres System und eine Disziplin, die nicht nur eine eigene Geschichte hat, sondern sich auch im Wandel befindet. Während sich feministische Geschichtswissenschaft im Zusammenhang mit den Kämpfen der Neuen Frauenbewegung im akademischen Feld positionieren und durchaus auch etablieren konnte, hat sich deren politische Dimension gewandelt. Denn obwohl Gender Mainstreaming und Gleichstellungspolitiken an den meisten Universitäten eingerichtet wurden, ist die Persistenz der Geschlechterungerechtigkeit augenfällig. Dies gilt es (neu) zu analysieren und als Rahmen unseres spezifischen akademischen Umfeldes zu begreifen. Historische Forschung erscheint uns dafür ebenso zwingend notwendig zu sein, wie ein Verständnis des gegenwärtigen Geschlechterverhältnisses und der darauf bezogenen Diskurse und Mechanismen zu entwickeln.

Nur so lässt sich kritisch reflektieren, welches unser „Sehepunkt“ auf die Geschichte ist, und so können wir auch Leerstellen und Fehlschlüssen in unserem Denken und Forschen auf die Spur kommen. Ähnlich argumentierte auch Barbara Duden in ihrer Keynote-Lecture auf der Tagung und diese Fragen diskutierten wir auch mit Teilnehmer*innen aus unterschiedlichen europäischen Forschungskontexten und -traditionen, um unsere jeweilige akademische Herkunft und Ausrichtung zu reflektieren.
Darüber hinaus brachte Anna-Lin Karl,[2] Humboldt-Universität zu Berlin, eine Metaperspektive in die Konferenz ein: Sie organisierte für ihr Dissertationsprojekt „Politische Abstinenz? Selbstverständnis und Strukturen der Gender Studies heute“ Fokusgruppen, um mit den anwesenden Forscher*innen über ihre Motivationen und politischen Selbstverortungen zu sprechen.

Die Beiträge

Als kritische Disziplin reflektierte Frauen- und Geschlechtergeschichte von Beginn an Gründe und Herangehensweisen ihres wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses. So war sie maßgeblich beteiligt am Transfer von Wissensbeständen zwischen den Geschichtswissenschaften und ihren Nachbardisziplinen – auch wenn man freilich nicht konstatieren kann, dass feministische Theorien und Erkenntnisse der Frauen- und Geschlechtergeschichte breiten Anklang in der allgemeinen Geschichte gefunden hätten. Denn feministische Forschung – gerade auch die historische – verlangt geradezu nach Interdisziplinarität und Internationalität. Das spiegelt sich auch im vorliegenden Sammelband und den Arbeitsschwerpunkten der Beiträger*innen wider.

Irene Somà (Bologna), „Gender Studies und Geschichtswissenschaften in den Untersuchungen zu Frauen in der klassischen Antike. Der Beitrag der Epigraphik“. Als Althistorikerin unterzieht sie die römische Epigraphik einer lange fälligen frauen- und geschlechterhistorischen Revision. So stellt sie essentialisierenden Geschlechterkonstruktionen, die durch die Wissenschaft selbst in die Geschichtsschreibung eingebracht wurden, neue Erkenntnisse über das Geschlechterverhältnis und die Macht von Frauen in der klassischen Antike gegenüber.

In ihrem Beitrag „Entangled History als Perspektive auf Frauenbewegungen“ stellen Elife Biçer-Deveci und Edith Siegenthaler (Bern) aktuelle Debatten um die Weiterentwicklung von Theorien transnationaler Geschichtsschreibung vor, bei denen eine stärkere Akzentuierung der Akteur*innen nicht nur in als peripher angesehenen Gebieten im Vordergrund stehen und damit ihre Handlungsräume sowie Strategien der Einflussnahme analysierbar werden.

Heike Mauer (Luxemburg/Duisburg-Essen) gibt in ihrem Aufsatz unter dem Titel „Intersektionalität operationalisieren! Theoretische und methodische Überlegungen für die Analyse des Prostitutionsdiskurses in Luxemburg um 1900“ einen systematischen Überblick über Positionen der Intersektionalitätsforschung.

Meritxell Simon-Martin (Winchester/Paris) stellt in ihrem Beitrag zu „Barbara Bodichon’s Epistolary Bildung: Education, Feminism and Agency in Letters“ eine englische Aktivistin der frühen bürgerlichen Frauenbewegung vor. Mit dem Begriff der „Bildung“ entwickelt sie eine Analysekatgorie, mit deren Hilfe die Briefe Bodichons neu gelesen werden können.

Einen anderen Zugang wählt Maria Derenda (Hamburg) in dem Aufsatz „Leben schreiben – Beruf schreiben. Historische Selbstzeugnisforschung als Zugang zur Berufsgeschichte von bildenden Künstlerinnen um 1900 am Beispiel von Elena Luksch-Makowskaja“. Darin führt sie vor, wie ein gezielter Blick auf verschiedene Ebenen der Autobiographie der Malerin Elena Luksch-Makowskaja (1878‒1964) die Bedeutung der Kategorie Geschlecht bei deren Selbst-/Konstruktion als Künstlerin hervortreten lässt.

Tim Rütten (Köln/Wien) führt in seinem Beitrag „Wahnsinn aus Heimweh im langen 19. Jahrhundert. Dienstmägde zwischen Normalisierung, Disziplinierung und Delinquenz“ mit Hilfe einer Diskursanalyse vor, wie das physio-psychologische Konstrukt Heimweh einen Zugriff auf weibliche Körper und wun_diszipliniert_covereibliches Verhalten ab 1800 ermöglichte. Dabei werden einerseits die diskursiven Grenzen der Nostalgie seit 1688 ausgelotet und andererseits wird die Neukonfiguration eines um 1900 ausschließlich weiblichen Heimwehs beleuchtet.

Karolina Sigmund (Wien) greift in ihrem Beitrag „,Ein abnorm veranlagtes Individuum‘ – Zur Konstruktion von ,Männlichkeiten‘ in militärpsychiatrischen Gutachten“ die Frage auf, wie sich solche Gutachten gegen den Strich lesen lassen, sodass ihre impliziten Männlichkeitskonstrukte sicht- und analysierbar werden.

Ebenfalls neue frauen- und geschlechterhistorische Perspektiven auf die Wissenschaftsgeschichte erschließt Michaela Maria Hintermayr (Wien) in ihrem Beitrag „,… während die Männer an den härteren Kampf um’s Leben schon gewohnt sind.‘ Der pathologisch-gerichtsmedizinische Aspekt des geschlechtsspezifischen Suiziddiskurses im frühen 20. Jahrhundert in Österreich“ und beleuchtet die Bedeutung der sexuierten Körper zu Erklärung von suizidalem Verhalten.

Mit ihrem Beitrag „From ,daughters of the republic‘ to contentious citizenship: Kemalist women’s activism in historical perspective“ nähert sich Selin Çağatay (Budapest) ihrem Gegenstand von einer theoretisch-politikwissenschaftlichen Perspektive aus an. Ihr gelingt es ebenfalls, einen langen Bogen zu schlagen: von der Entstehung der kemalistischen Frauenbewegung bis hin zu aktuellen Debatten unter feministischen Aktivistinnen in der Türkei.

Geschlechterfoschung interdisziplinär und un/diszipliniert?

Bei der Veranstaltung am 12.11.2016 wird Heike Mauer zur Einleitung der Buchpräsentation einen Vortrag halten. „Geschlechterforschung interdisziplinär und un/diszipliniert?“, fragt Mauer. „Ihrem Selbstbild zufolge versteht sich die Geschlechterforschung oft als ‚undiszipliniert‘ und zugleich als ‚interdisziplinär‘. Der Vortrag begibt sich auf eine Spurensuche nach den fachlichen und hochschulpolitischen Möglichkeiten, die eine solche Perspektive bietet und streift zugleich auch die Herausforderungen, die damit einhergehen.“

Wir freuen uns auf Euer Kommen!

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Buchpräsentation mit Grußworten von Gabriella Hauch (Wien) und Vortrag von Heike Mauer (Duisburg-Essen) „Geschlechterstudien – interdisziplinär und un/diszipliniert?“ mit anschließendem Umtrunk
12.11.2016, 19:00 Uhr in der Frauenhetz (Untere Weißgerberstraße 41, 1030 Wien)

Anschließend laden wir zu kleinem Buffet und Wein.
All Genders welcome!

Eine Kooperation von fernetzt & Frauenhetz
Veronika Helfert, Jessica Richter, Brigitte Semanek, Alexia Bumbaris und Karolina Sigmund (Hg.innen): Frauen- und Geschlechtergeschichte un/disziliniert? Aktuelle Beiträge aus der jungen Forschung. Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2016. (=Studien zur Frauen- und Geschlechtergschichte; 11)

Innsbruck/Wien/Bozen, StudienVerlag, 2016
ISBN: 978-3-7065-5511-1
EUR 24,90

mit Beiträgen von Irene Somà (Bologna), Meritxell Simon-Martin (Winchester), Tim Rütten (Wien), Maria Derenda (Hamburg), Heike Mauer (Duisburg-Essen), Michaela Maria Hintermayr (Wien), Elife Biçer-Deveci / Edith Siegenthaler (Bern) und Selin Çağatay (Budapest)

hier gehts zum Flyer (Pdf): un_diszipliniert_buchpraesentation_flyer

Buchankündigung auf der Verlagsseite hier: http://www.studienverlag.at/page.cfm?vpath=buecher/buchdetail&titnr=5511
Homepage von Heike Mauer: https://www.uni-due.de/bw-eb/mauer.php

Anmerkungen
[1] Tagungsberichte in H-Soz-Kult (Matthias Vigl/Wien): http://www.hsozkult.de/searching/id/tagungsberichte, Salon 21 (Ruben Hackler/Zürich): http://www.univie.ac.at/Geschichte/salon21/?p=10046 und auf der Homepage der Univ. Wien (Brigitte Semanek/Wien): http://medienportal.univie.ac.at/uniview/

[2] Anna-Lin Karl, Zur Rezeption der Kategorie Behinderung und Feminismus. Eine Betrachtung
von den 1970er Jahren bis heute, in: Gemeinsam leben 19, 3 (2011), 172–175.

By |2018-11-24T04:32:27+01:001. November 2016|BuchBesprechung|0 Comments