Dieser Beitrag thematisiert die Erfahrungswerte und Initiativen, die die Gründung des Wiener Frauen-Erwerb-Vereins 1866 begleiteten. Die scheinbar mit nichts als Zuversicht ans Werk gehenden Frauen hatten bereits Knowhow gesammelt und Netzwerke etabliert, die sie für ihre Zwecke nutzen konnten.
Der erste Frauen-Erwerb-Verein auf habsburgischem Gebiet wurde 1866 in Wien gegründet. Das Engagement dieses Vereins wird als erste Initiative in der Habsburgermonarchie bezeichnet, die zum Ziel hatte, Mädchen und Frauen Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen, die über die Inhalte der Primarstufe hinausgingen. Zudem werden die Anfänge der österreichischen Frauenbewegung(en) mit dieser Initiative in Verbindung gebracht. Diese Erzählung lässt die Arbeit und Erfahrungswerte der zu diesem Zeitpunkt bereits bestehenden Frauenvereine und das vielfältige Privatschulangebot jener Zeit in den Hintergrund treten. Der Blog-Beitrag hinterfragt diese Erzählung aus geschlechterhistorischer Perspektive und zeigt Kontinuitäten auf.
Mythenbildung
1930 schrieb Gisela Urban, Journalistin und Funktionärin im Bund Österreichischer Frauenvereine, in ihrer Arbeit über die Entwicklung der Frauenbewegung in Bezug auf die Gründung des Wiener Frauen-Erwerb-Vereins: „Wer kann die Arbeit, für die es kein Schema, keine Erfahrung gab, heute noch ermessen?“[1]
Obwohl es zum Zeitpunkt der Vereinsgründung 1866 bereits ein aktives Netzwerk von Frauen gab, die sich mit Vereinsarbeit beschäftigten, wird von Urban die Novität des Unterfangens betont.[2] Gründungsmythen betonen in ihrer sinnstiftenden Funktion das noch nie Dagewesene, Einzigartige. Die Betonung der fehlenden Erfahrung wurde über Jahrzehnte tradiert und steht mit geschlechterspezifischen Vorstellungen von Expertise in Zusammenhang. Die meisten der an der Vereinsgründung beteiligten Frauen hatten bis 1866 bereits jahrelange Erfahrung in karitativer Vereinsarbeit gesammelt, auf die sie zurückgreifen konnten. In Berichten wurden jedoch nicht diese Erfahrungswerte und daraus resultierenden Netzwerke betont, sondern es wurde die „Zuversicht“ der Frauen hervorgehoben, die scheinbar unbedarft ans Werk gingen.[3] Durch die fehlende Erwähnung vorhandener weiblicher Expertise sticht die Unterstützung von Fachmännern umso mehr hervor, die den Frauen beratend zur Seite standen. Zuversicht war eher mit geschlechterspezifischen Normen vereinbar, deren Einhaltung ein wichtiges Credo der Vereinsfunktionärinnen war.
Frauenvereinsgründungen in Krisenzeiten
Der Wiener Frauen-Erwerb-Verein war keineswegs der erste, der sich mit der Förderung weiblicher Bildung und Erziehung beschäftigte. Schon mehrfach hatten kirchliche und staatliche Behörden in Krisenzeiten das Engagement adeliger und bürgerlicher Frauen in diesem Bereich gestattet und dann allerdings mit Argusaugen überwacht.
Bereits 1810 wurde die Gesellschaft adeliger Frauen zur Beförderung des Guten und Nützlichen (ab 1841 ‚Damen‘) gegründet. Sie nahm inmitten der Napoleonischen Kriege, kurz vor dem Staatsbankrott 1811, ihre Arbeit auf, die sich im frühen 19. Jahrhundert keineswegs auf das Verteilen von Almosen beschränkte.[4] Kurze Zeit später, im Jahr 1816, konstituierte sich der Wiener Israelitische Frauen-Wohltätigkeits-Verein.[5] Geschlechternormen wurden in diesen Kontexten meist nicht hinterfragt. Wenn doch, wurde rasch und brutal vorgegangen, wie das Schicksal von Karoline von Perin (1806–1888) zeigt. Der von ihr 1848 gegründete Erste Wiener Demokratische Frauenverein, der Partizipation und gleiche Bildungschancen forderte, wurde nach zwei Monaten aufgelöst; Perin selbst wurde verhaftet und misshandelt.[6]
Arbeitsschulen und die Abfederung von Kriegsfolgen
Als Gegenreaktion zu diesem politischen Verein kam es zu zwei miteinander konkurrierenden karitativen Vereinsgründungen, die das Betreiben eines engmaschigen Netzes von Industrieschulen für Mädchen aus Arbeiter:innen- und Handwerksfamilien in Wien forcierten: der Frauen-Wohltätigkeits-Verein für Wien und Umgebung (1848) und der Frauenverein für Arbeitsschulen (1850).[7] Auch der 1860 gegründete Evangelische Frauen-Verein in Wien war bestrebt, Handarbeitsunterricht zu fördern sowie in Notlage geratene Frauen mit Arbeitsvermittlung und Unterkunft zu unterstützen.[8] In der Habsburgermonarchie herrschte zu diesem Zeitpunkt Krisenstimmung; der Finanzwissenschaftler Alexander Peez (1829–1912) bezeichnete die Jahre 1860 bis 1866 gar als die „in wirtschaftlicher Hinsicht ungünstigsten, die Österreich je erlebt hatte.“[9] Der Preußisch-Österreichische Krieg 1866, dessen Niederlage innenpolitisch 1867 zum Ausgleich mit Ungarn führte, trug zur Legitimation der Gründung des Wiener Frauen-Erwerb-Vereins bei. Sein Ziel war nämlich zunächst die Linderung von Kriegsfolgen und so trat die Assoziation absichtlich als wirtschaftlicher und nicht als konfessionell geprägter oder karitativer Verein auf.
Ein „taking off“ privater Schulinitiativen
Bereits über Jahrzehnte hatten Frauen aus Handwerkermilieus oder aus Kreisen des Bürgertums die Möglichkeit ergriffen, Mädchenschulen zu eröffnen und zu leiten, obwohl sie selbst bis zum Reichsvolksschulgesetz von 1869 nur befugt waren, Sprachen und Handarbeiten zu unterrichten.[10] Die Gewerbeordnung 1859 brachte das Ende der Zunftverfassung und die Einführung der freien Gewerbeausübung. Die neue Regelung hatte zur Folge, dass – mit Ausnahme konzessionspflichtiger Branchen und Schulgründungen – lediglich eine Anmeldung notwendig war, um eine Tätigkeit gewerblich auszuüben.[11] Diese Öffnung erleichterte die Erwerbstätigkeit von Frauen in gewissen Belangen. Sie konnten nun etwa als selbstständige Näherinnen auch Lehrlinge und Angestellte beschäftigen. Zudem motivierte dies viele Frauen, Ansuchen um Bewilligung von Privatschulen und Lehrgängen zu stellen – auch unter dem Eindruck der ökonomisch krisenhaften Entwicklung der 1860er Jahre.[12]
Im Jahr 1861 besuchten innerhalb der damaligen Wiener Stadtgrenze 4.216 Schülerinnen 81 Industrieschulen (Arbeitsschulen), in denen Handarbeiten unterrichtet wurde und die von Privaten und Vereinen betrieben wurden.[13] Auch Mädchenschulen und sogenannte Erziehungsinstitute für Töchter wohlhabender Eltern erfreuten sich großer Beliebtheit. Im Wien der 1860er Jahre zählte das Institut von Betty und Marie Fröhlich zu einer der etabliertesten Einrichtungen dieser Art.[14]
Ausbildungsformen für bestimmte Berufssparten von Frauen
Neue Schulformen, die sich an Lernwillige aus der Mittelschicht richteten, boten mehrmonatige Ausbildungen in bestimmten Berufssparten an. Beispiele für solche Einrichtungen sind die Erste concessionierte Theaterschule von Emilie Door (gegründet 1864), die Friseurschule von Elise Artbauer (gegr. 1862), die Opernschule von Katharina Plaschesky-Bauer (gegr. 1862) oder die Handelslehranstalt von Maria Kühnel (gegr. 1866). Speziell der Unterricht im Damenkleidermachen erlebte einen Boom. Als Konsequenz der Gewerbeordnung durften Frauen in ihren Werkstätten Lehrlinge ausbilden und Angestellte beschäftigen, bis dahin hatten sie isoliert arbeiten müssen.[15]
Ab diesem Zeitpunkt konnten Frauen selbstbewusst ihren Anspruch auf Expertise erheben, wie dies im Fall der Näherin Ernestine Zecha deutlich wird. Zecha hatte 1856 eine Industrieschule eröffnet und bot auch Unterricht in französischer Konversation an. In Folge der Gewerbeordnung veränderte sie ihre Strategie, nannte sich Madame Ernestine und gab ihrer Schule den Namen Erste Wiener Schnittzeichen- und Bekleidungs-Schule.[16] In den Verzeichnissen der katholischen Schulaufsicht wurde sporadisch auch der „Stand“ von Schulgründerinnen erfasst, darunter finden sich Bezeichnungen wie Oberlehrers-Witwe, Tonkünstlersgattin, Beamtenwitwe, Oberleutnants-Tochter, Seidenhändlerstochter, Eisenbahn-Beamtens-Gattin, Webergesellensgattin oder auch „vom Ehegatten geschieden“, also von Tisch und Bett getrennt lebend.[17] In rasender Geschwindigkeit wurden Schulen etabliert und manchmal im selben Jahr wieder geschlossen.
Verflechtung von Frauenvereinen und Bildungsanstalten
Der Wiener Frauen-Erwerb-Verein eröffnete im ersten Jahr seines Bestehens eine Handschuh-Nähstube, die auch als Verkaufsstelle diente, vermittelte (äußerst schlecht bezahlte) Stellen in der Staatsdruckerei im Bereich der Kuvertherstellung und finanzierte einen Handelskurs für Mädchen.[18] Dieser Kurs wurde von Maria Kühnel in ihrer Handelslehranstalt angeboten.[19] Die Zusammenarbeit zwischen dem Verein und Kühnel zeigt die Verflechtung von privaten Schulinhaberinnen und Frauen im Vereinskontext, die bereits im frühen 19. Jahrhundert zu finden ist.
Aus Perspektive der Schulbehörden, in deren Tätigkeit bis zum Reichsvolksschulgesetz 1869 der katholische Klerus intensiv eingebunden war, war es aufwändig, private Schulen zu überwachen. Die Kontrollfunktion, auf die sich der Staat im Bereich der Mädchenbildung insgesamt beschränkte, wurde durch Vereinsgründungen erleichtert. Den liberalen Politikern der 1860er Jahre kam das engagierte Auftreten bürgerlicher Frauen für die Sache der weiblichen Bildung in Vereinigungen möglicherweise durchaus gelegen, um Emanzipationsbestrebungen, die ausgehend von den USA medial viel Aufmerksamkeit erfuhren, in Schach zu halten.
Obwohl normative Vorstellungen von Weiblichkeit in diesen Kontexten hochgehalten und vermittelt wurden, überschritten die handelnden Frauen die ihnen als „natürliche“ Wesensart zugeschriebene Passivität und Fremdbestimmtheit. Handlungsmöglichkeiten eröffneten sich nicht nur für die Vereinsfunktionärinnen und Schulinhaberinnen selbst, sondern auch für ihre Schülerinnen, denen wenig staatliches Bildungsangebot zur Verfügung stand.[20]
Schluss
Wenn Frauen schrittweise erweiterte Bildungsmöglichkeiten erkämpften, fand dies stets in enger Verzahnung der Tätigkeiten von privaten Schulinhaberinnen und Vereinsfunktionärinnen statt. Die Gründung des Wiener Frauen-Erwerb-Vereins kann als Katalysator zur Eindämmung weitaus radikalerer Projekte und Ideen in dieser Zeit verstanden werden, an denen der Staat auch in der Zeit des Liberalismus kein Interesse zeigte. Bei genauerer Beobachtung finden sich jedoch in den Folgejahren in vielen Biographien von Aktivistinnen für gleiche Bildungschancen Verbindungen zu Privatschulinhaberinnen. Marianne Hainisch (1839–1936) die bereits 1870 bei einem Vortrag im Wiener Frauen-Erwerb-Verein gymnasiale Bildung für Mädchen gefordert hatte, war Schülerin im Institut von Betty und Marie Fröhlich gewesen.[21] Frauen im Schulkontext in Leitungspositionen zu erleben, hinterließ möglicherweise einen bleibenden Eindruck.
Anmerkungen
[1] Gisela Urban, Die Entwicklung der Österreichischen Frauenbewegung im Spiegel der wichtigsten Vereinsgründungen. Frauenbewegung, Frauenbildung und Frauenarbeit in Österreich (Wien 1930), 25–64.
[2] Siehe dazu meinen Beitrag über Auguste von Littrow, eine der Mitbegründerinnen des Wiener Frauen-Erwerb-Vereins: Waltraud Schütz, Positionierungen in der Frauenfrage der 1860er-Jahre. Auguste von Littrow (1819–1890) und ihre Suche nach Verbündeten. In: Elisa Heinrich und Mirjam Höfner (Red.), ARIADNE – Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 78: Politische Freund:innenschaft. Bündnisse, Netzwerke, Lebensgemeinschaften (2022), 8–23.
[3] Rechenschafts-Bericht des Wiener Frauen-Erwerb-Vereines für das Schuljahr vom 1. September 1890 bis 31. August 1891, 8. Für die Rechenschaftsberichte siehe https://www.digital.wienbibliothek.at.
[4] Zu deren Tätigkeitsfeldern vgl. Waltraud Schütz, Hilfe für Abgebrannte, ländliche Feste und medizinische Versorgung. Wohltätiges Engagement von Frauen. In: Oliver Kühschelm, Elisabeth Loining, Stefan Eminger und Willibald Rosner (Hg.), Niederösterreich im 19. Jahrhundert. Band 2 (St. Pölten 2021), 381–410.
[5] Vgl. Elisabeth Malleier, Jüdische Frauen in Wien 1816–1938. Wohlfahrt – Mädchenbildung – Frauenarbeit (Wien 2003).
[6] Vgl. Gabriella Hauch, Frauen bewegen Politik. Österreich 1848–1938 (Innsbruck/Wien/Bozen 2009), 61–82.
[7] Ein Beitrag der Autorin über die politischen Bestrebungen dieser beiden Vereine befindet sich in Vorbereitung.
[8] NÖLA, VerStatuten 1855–1935/40 K 3971/126, Statuten des Evangelischen Frauen-Verein in Wien, 1860.
[9] Alexander Peez zitiert von Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Wien 1995), 243.
[10] Kaiser Franz II/I hatte 1819 befohlen, Befugnisse zur Eröffnung und Leitung von Mädchenschulen ausschließlich Frauen zu erteilen. Erzieherinnen in ihrer „natürlich-mütterlichen“ Funktion waren in den Augen des Monarchen das kleinere Übel zu einer Zeit, als Schreckensszenarien sexueller Verführung im Kontext von Anti-Masturbationswarnungen vieldiskutiert wurden. Vgl. https://www.derstandard.at/story/2000130758335/laster-der-selbstbefleckung-anti-masturbations-kampagnen-in-der-habsburgermonarchie (15.09.2022).
[11] Helene Herda, Der Zugang von Frauen zum Gewerbe. Eine Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen von 1859 bis heute. In: Irene Bandhauer-Schöffmann und Regina Bendl (Hg.), Unternehmerinnen. Geschichte und Gegenwart selbständiger Erwerbstätigkeit (Frankfurt am Main 2000), 135–159.
[12] Vgl. Diözesanarchiv Wien, Schulamtsakten, Mappen 233, 263 und 272.
[13] Diözesanarchiv Wien, Schulamtsakten Mappe 274/11/2c, Übersicht.
[14] Vgl. Waltraud Schütz, The Fröhlich Institute. Women as girls’ school owners in 19th century Vienna, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 28, 2 (2017), 193–217.
[15] Vor 1859 sind zahlreiche Fälle zu finden, die zeigen, dass diese Regel mit der Gründung von Industrieschulen (Arbeitsschulen), in denen Handarbeiten unterrichtet wurde, umgangen wurde.
[16] Mad. Ernestine, „Kleidermachen und Schnittzeichnen“, Fremden-Blatt, 07.10.1868, 8.
[17] Diözesanarchiv Wien, Schulamtsakten 272, Arbeitsschulen. Zur Trennung von Tisch und Bett siehe das Projekt „Ehen vor Gericht“ https://ehenvorgericht.univie.ac.at/ (20.09.2022).
[18] Margret Friedrich, „Versorgungsfall Frau?“ Der Wiener Frauen-Erwerb-Verein – Gründungszeit und erste Jahre des Aufbaus. Studien zur Wiener Geschichte 47/48 (1991/1992), 263–308.
[19] Anon., Der Frauen-Erwerbsverein entwickelt eine rege, vielseitige Thätigkeit, Fremden-Blatt, 03. Jänner 1867, 3.
[20] Margret Friedrich, Hatte Vater Staat nur Stieftöchter? Initiativen des Unterrichtsministeriums zur Mädchenbildung 1848–1914. In: Brigitte Mazohl-Wallnig (Hg.), Bürgerliche Frauenkultur im 19. Jahrhundert (Wien/Köln/Weimar 1995), 301–342.
[21] Marianne Hainisch, Zur Frage des Frauen-Unterrichtes. Vortrag gehalten bei der dritten General-Versammlung des Wiener Frauen-Erwerb-Vereines (Wien 1870).
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