Die „Trümmerfrau“ ist im kollektiven Gedächtnis der Österreicher*innen fest verankert. Als Ikone der Nachkriegszeit hat sie ihren Platz in der Erinnerungskultur gefunden. Jedoch überschattet sie dadurch die verschiedenen Lebensrealitäten der österreichischen Nachkriegsfrauen.
Schulbücher als Erinnerungsträger
In meiner Diplomarbeit habe ich die Inhalte von elf Geschichtsschulbüchern, erschienen in den Jahren 2006 bis 2018, untersucht. Das Forschungsinteresse war es zu analysieren, ob und wie die österreichischen Nachkriegsfrauen und ihre Lebenswelten beschrieben werden. Das Korpus bestand aus den gängigsten Unter- sowie Oberstufenschulbüchern, die sich an Schüler*innen zwischen zehn und 14 bzw. 14 und 18 Jahren richten.[1]
Das Ergebnis meiner Studie war ernüchternd. Die „Trümmerfrau“ wird überwiegend als exemplarische Erfahrung in der Nachkriegszeit genannt, allerdings oft ohne kontextuelle Einbettung. Begleitet sind diese Texte häufig von einer Fotografie, die Räumer*innen bei der Arbeit abbildet. Andere Frauenschicksale werden in den untersuchten Geschichtsschulbüchern nachgereiht oder überhaupt nicht erwähnt.
Hier ein beispielhafter Schulbucheintrag:
Da viele Männer in Kriegsgefangenschaft oder im Krieg gefallen waren, mussten Frauen unter schwierigen Bedingungen die Familie versorgen. Dazu beseitigten sie die Trümmer der zerbombten Gebäude („Trümmerfrauen“) und waren damit wesentlich am Wiederaufbau beteiligt.
Michaela Bachleitner, Conny Benedik, Franz Graf, Franz Niedertscheider, Michael Senfter, Bausteine 4 (Wien 2018) 56.
Die Schulbücher verabsäumen es, zu differenzieren. Dadurch werden unterschiedliche Lebensumstände unter dem Schlagwort der „Trümmerfrau“ homogenisiert. De facto kämpfte die weibliche Nachkriegsbevölkerung mit zahlreichen Herausforderungen und entwickelte dafür Überlebensstrategien.
Nachkriegs-Lebensrealitäten
In nur wenigen Lehrwerken werden die Erfahrungen der Nachkriegsfrauen abseits der Trümmerräumung erwähnt. Aufräumarbeiten machten nicht allein den Alltag von Bewohnerinnen der zerbombten Städte aus. So waren viele von ihnen auch als Hamsterinnen (wie ich jene Akteurinnen bezeichne, die sich Lebensmittel durch Fahrten ins Umland der Großstädte beschafften) unterwegs, die gefinkelte Tauschgeschäfte unternahmen.
In Österreich wurde nach dem Zweiten wie im und nach dem Ersten Weltkrieg ein Lebensmittelkartensystem eingeführt. In Wien wurden Frauen bei der Kartenausgabe gegenüber Männern stark benachteiligt.[2] Um dieser Ungerechtigkeit entgegenzuwirken, gingen die Akteurinnen hamstern.
In nur einem der untersuchten Schulbücher wird das Hamstern erwähnt, wenn auch nur implizit. Dargestellt ist ein Tagebucheintrag der Zeitzeugin Anna Mutschlechner, die über die Erlebnisse einer Hamsterfahrt schrieb. Im Eintrag gibt es keine weitere Ausführung zu dieser Überlebensstrategie.[3]
Neben den Nahrungssorgen plagte die weibliche Bevölkerung auch Angst vor sexualisierter Gewalt. Die NS-Propaganda hatte Panik vor den sowjetischen Soldaten geschürt und zeichnete das Feindbild der „wilden Russen“.[4] Die Furcht war nicht ungerechtfertigt: Die Zahl an registrierten Sexualtatstrafen stieg in der unmittelbaren Nachkriegszeit rapide an.[5]
Die Opfer sexualisierter Gewalt waren mit den psychischen und physischen Folgeschäden zumeist auf sich alleine gestellt. Zudem erlebten sie häufig gesellschaftliche Diskriminierung und Stigmatisierung. Die gesundheitliche Versorgung war vor allem für die Landbevölkerung nicht gegeben. Die ansteigenden Infektionen mit Syphilis und Gonorrhöe waren dadurch schwer einzudämmen.[6]
Die österreichischen Tageszeitungen berichteten häufig von gewalttätigen Übergriffen. Durch diese Zeitungsberichte intensivierte sich die Angst vor den sowjetischen Soldaten.
In nur einem Geschichtslehrwerk wird auf die sexuellen Übergriffe verwiesen. Diese Passage bezieht sich jedoch nicht direkt auf die Situation der Nachkriegsfrauen: Es kam „in der sowjetischen Besatzungszone immer wieder zu Plünderungen, Übergriffen und Vergewaltigungen durch Soldaten an der Zivilbevölkerung.“[7]
Auch Frauen, die romantische Beziehungen zu alliierten Soldaten pflegten, kämpften mit harscher Kritik und Diskriminierung. Die österreichische Nachkriegsgesellschaft tolerierte solche Liebschaften kaum. Daher erlebten die Betroffenen häufig Ausgrenzung, Hohn und Spott, wie Frau Bertha G. aus Wien hier veranschaulicht:
In einem benachbarten Wohnhaus hat zum Beispiel ein sehr attraktives Mädchen gewohnt, die hatte einen russischen Hauptmann als Freund […]. Aber dann hat sie etwas mit einem Amerikaner angefangen, und der Russe hat sie erwischt und hat sie ordentlich verprügelt. Die Schadenfreude rundum war natürlich groß, alle haben gelacht […] „Recht geschieht ihr, wenn sie verdroschen wird.“
Erzählung von Bertha G. aus Wien. Zitiert in: Franz Severin Berger, Christiane Holler, Trümmerfrauen: Alltag zwischen Hamstern und Hoffen (Wien 1984) 186.
Dies wird in keinem der untersuchten Lehrwerke erwähnt. Und was ist mit den Verfolgten und Vertriebenen, die oft unerwünscht, wieder zurückkehrten? Oder den Nachkriegspolitikerinnen? In den untersuchten Lehrwerken haben auch sie – wie die oben genannten Dimensionen weiblicher Nachkriegserfahrungen – keinen Platz gefunden. Die Dominanz der „Trümmerfrau“ überschattet diese und viele andere Lebenswelten. Doch woraus resultierte diese Idealisierung und wer waren diese Räumerinnen überhaupt?
Ikonisierung eines Begriffs
Die Schulbuchinhalte spiegeln die gesellschaftliche Wahrnehmung der „Trümmerfrauen“ wider. Häufig wird das geklitterte Heldinnenimage dieser Frauen unreflektiert übernommen und vermittelt. Mit bloßen Händen sollen sie die Städte wiederaufgebaut haben – und dies aus ganz altruistischen Motiven. Dieser Mythos hält einer genaueren Betrachtung keineswegs stand.
Bereits die Begrifflichkeit wirft Fragen auf, denn wer genau kann als „Trümmerfrau“ bezeichnet werden? In der österreichischen Erinnerungskultur ist sie die Vertreterin aller Nachkriegsweiblichkeiten.[8] Ursprünglich bezog sich der Begriff nur auf Berlinerinnen, die tatsächlich an der Trümmerräumung beteiligt waren. Im Laufe der Zeit veränderten sich die Konnotationen und die Bezeichnung fand auch Eingang in Österreich.[9]
Unter den Räumerinnen befanden sich registrierte Nationalsozialistinnen, die zu Aufräumarbeiten verpflichtet wurden, aber auch Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter*innen sowie Freiwillige.[10] Wie viele Personen tatsächlich an den Arbeiten in Österreichs Großstädten beteiligt waren, wurde bis dato noch nicht erhoben. Fest steht allerdings: Die „Trümmerfrau“ war kein Massenphänomen.
Die Heldinnenkonstruktion steht in direkter Verbindung zum österreichischen Opfermythos. Maria Pohn-Weidinger versteht die „Trümmerfrau“ als eine spezifische Handlungsweise, um die Beteiligung an der nationalsozialistischen Herrschaft zu bedecken. Im offiziellen Gedenken dient die Ikone als Aufarbeitungsstrategie, um der eigenen Vergangenheit und Verantwortung zu entkommen.[11]
So hält sich das starre Bild der steineklopfenden Frauen, die Österreichs Städte wiedererrichtet haben sollen. Die Dominanz dieses Narratives führt dazu, dass diese Akteurinnen auch in den Schulbüchern vorangereiht werden. Gleichzeitig verschwinden die verschiedenen Lebenswelten der Nachkriegsfrauen im Schatten der „Trümmerfrau“.
Sei es in Schulbüchern, die auch eine erinnerungskulturelle Funktion haben, oder aber in Form von Denkmälern: Mit dem Begriff „Trümmerfrau“ kommt eine Verantwortung. Einerseits darf er nicht als Sammelbegriff für alle Nachkriegsfrauen stehen. Andererseits ist es wichtig, ein Bewusstsein zu schaffen, dass unter ihnen auch belastete Nationalsozialist*innen waren.
Weiterlesen: Die Diplomarbeit von Clara-Anna Egger mit dem Titel „Unter dem Deckmantel der ‚Trümmerfrau‘ – Die Homogenisierung der österreichischen Nachkriegsfrauen in der Erinnerungskultur“ bietet einen tieferen Einblick zum Thema.
Anmerkungen
[1] Gemessen an den Bestellzahlen im Rahmen der „Schulbuchaktion“ des Schuljahres 2017/2018.
[2] Siehe dazu: Irene Bandhauer-Schöffmann, Schlechte Karten für Frauen. Die Frauendiskriminierung im Lebensmittelkartensystem im Nachkriegs-Wien. In: Frauenleben 1945 – Kriegsende in Wien. 205. Sonderausstellung des historischen Museums der Stadt Wien (21. September–19. November 1995) 42–57, hier: 42 bzw. 48–49.
[3] Franz Melchiar, Irmgard Plattner, Claudia Rauchegger-Fischer, Stephan Scharinger, GO! 7 (Wien 2018) 85. Das Tagebuch wurde veröffentlicht: Von Zerstörung und Wiederaufbau. Das Tagebuch der Innsbruckerin Anna Mutschlechner 1944–1951, hg. von Roland Sila (Innsbruck et al. 2003).
[4] Siehe dazu: Barbara Stelzl-Marx, Freier und Befreier: Zum Beziehungsgeflecht zwischen sowjetischen Soldaten und österreichischen Frauen. In: Stefan Karner, Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955 (München 2005) 421–447. Siehe dazu auch den fernetzt-Blogpost von Pauline Bögner, „[…] bis jetzt sind sie nicht unverschämt.“ (20.11.2020), online: https://fernetzt.univie.ac.at/20201120/.
[5] Marianne Baumgartner, Vergewaltigungen: Zwischen Mythos und Realität. Wien und Niederösterreich im Jahre 1945. In: Frauenleben 1945, 60–71, hier: 64.
[6] Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innenansicht der sowjetischen Besatzung 1945–1995 (Wien 2012) 478.
[7] Margot Graf, Martina Vogel-Waldhütter, Franz Halbartschlager, MEHRfach. Geschichte 4 (Linz 2014) 46.
[8] Maria Pohn-Weidinger, Heroisierte Opfer. Bearbeitungs- und Handlungsstrukturen von „Trümmerfrauen“ in Wien (Wien 2 2012) 14.
[9] Leonie Treber, Mythos Trümmerfrauen. Von der Trümmerbeseitigung in der Kriegs- und Nachkriegszeit und der Entstehung eines deutschen Erinnerungsortes (Essen 2014) 265–266.
[10] Erika Thurner, Frauenleben 1945… In: Frauenleben 1945 – Kriegsende in Wien. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien (21. September – 19. November 1995) 12–24, hier: 15. Zeithistoriker Martin Tschiggerl forscht gerade in einem aktuellen Projekt zu den österreichischen „Trümmerfrauen“, online: https://workshop-fsp-fgg2020.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/k_workshop_fsp_fgg2020/Beitrag_Tschiggerl.pdf (16.01.2021).
[11] Vgl. Pohn-Weidinger, Heroisierte Opfer.
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