Kollektive oder individuelle Rechte? Menschenrechte und Überbevölkerung

Menschenrechte wurden nicht immer als individuelle Rechte verstanden – das zeigen vor allem Diskussionen zu globalen Bevölkerungspolitiken in den 1960er und 1970er Jahren. Ein Beitrag zur Historiographie der Menschenrechte und ihrer geschlechtsspezifischen Implikationen.

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Cover einer Broschüre aus dem Jahr 1954, hg. vom Hugh Moore Fund

Mit der im Oktober 2015 verkündeten Entscheidung der Volksrepublik China, die 1978 eingeführte Ein-Kind-Politik zu beenden, rückten Menschenrechtsverletzungen im Bereich reproduktiver Politiken wieder verstärkt in den Fokus medialer Berichterstattung.[1] Aber auch die nun gültige Zwei-Kind-Politik wurde unmittelbar nach deren Bekanntmachung kritisiert. Amnesty International berichtete von Zwangsabtreibungen, die auch mit der neuen Politik nicht gestoppt werden könnten, und forderte ein Ende der staatlichen Eingriffe.[2]

Es scheint verständlich, dass Menschenrechte in diesem Beispiel eine Rolle spielen, da die Rechte von Individuen auf körperliche Unversehrtheit oder reproduktive Gesundheit verletzt wurden. Es passt zum aktuellen Verständnis, das wir von Menschenrechten haben. Oft verstehen wir darunter Rechte, die – trotz aller Kritik an deren Unzulänglichkeit und Ineffizienz – Menschen vor Übergriffen schützen oder den Staat zur Bereitstellung bestimmter Ressourcen zwingen sollen. Geht man historisch einige Jahrzehnte zurück, zeigt sich, dass dieses individuelle Verständnis nicht immer dominant war.

Bevölkerungspolitiken und -diskurse nach 1945

Spätestens in den 1950er Jahren verschränkte sich die Diskussion um globale Bevölkerungspolitiken mit einem Überbevölkerungsdiskurs. In den 1950er und 1960er Jahren setzte sich die Vorstellung durch, dass das Wachstum der Weltbevölkerung die Ursache für lokale und globale Krisenerscheinungen bilden würde.[3] Die Ein-Kind-Politik in China etwa wurde vor dem Hintergrund eines als problematisch wahrgenommenen Bevölkerungswachstums beschlossen. Viele andere Länder versuchten ebenfalls, Fertilitätsraten zu reduzieren. Dass der Überbevölkerungsdiskurs dominant wurde, heißt aber nicht, dass es keine Gegenstimmen gab. Der Begriff der Überbevölkerung wurde jedoch zum hegemonialen Referenzpunkt, von dem aus die einzelnen historischen AkteurInnen argumentierten oder sich abgrenzen mussten.

Bevölkerungskontrolle

In den 1950er und 1960er Jahren spielten nicht-staatliche bevölkerungspolitische Organisationen wie der 1952 gegründete Population Council oder die im selben Jahr gegründete International Planned Parenthood Federation eine wichtige Rolle. Sie argumentierten für Maßnahmen der Geburtenkontrolle, um Fertilitätsraten zu senken, und organisierten entsprechende Kampagnen.

Vor allem Frauen aus sozial schwachen Schichten in sogenannten Entwicklungsländern wurden als „target populations“ definiert. Die Reduktion der Geburtenraten sollte mittels Intrauterinpessaren („Spirale“) oder durch Sterilisationen erreicht werden. Historische Forschungen haben gezeigt, dass diese Maßnahmen oft ohne Zustimmung der betroffenen Frauen erfolgten und/oder zu negativen gesundheitliche Folgen aufgrund fehlender medizinischer Nachversorgung führten.[4]

Individuelle oder kollektive Rechte?

Menschenrechtliche Positionen scheinen in diesem Kontext nur im Zusammenhang mit einer Kritik an diesen Maßnahmen plausibel. Es müssten hier ja die Rechte des Individuums gegen staatliche Eingriffe geschützt werden. Bisherige Forschungen unterstützen diese Annahme, indem sie einen Fokus auf Kampagnen für reproduktive Rechte im Zeitraum von etwa 1984 bis 1994 legen.[5]

Bevölkerungspolitiken wurden jedoch schon deutlich früher menschenrechtlich gerahmt. Die Verschränkung menschenrechtlicher Forderungen mit einem Diskurs der Überbevölkerung führte zu einem Konflikt zwischen individuellen und kollektiven Rechtsverständnissen. Einerseits verweisen Menschenrechte auf das Individuum als Rechtssubjekt, andererseits verlangen bevölkerungspolitische Eingriffe eine Abstraktion vom Individuum. Immerhin geht es darum, das reproduktive Verhalten von größeren Gruppen zu beeinflussen, die anhand der Kategorien race, class und gender strukturiert sind. Dieser Konflikt führte zu widersprüchlichen Formulierungen, wie jener im Abschlussdokument der Menschenrechtskonferenz 1968 in Teheran. Darin wurde von einem „basic human right“ gesprochen, das „couples“ ermöglichen sollte, „freely and responsibly“ über die Anzahl ihrer Kinder und den Zeitpunkt ihrer Geburt zu entscheiden:

„The International Conference on Human Rights considers that couples have a basic human right to decide freely and responsibly on the number and spacing of their children and a right to adequate education and information in this respect.“[6]

Die Widersprüche dieser Formulierung können an zwei Punkten festgemacht werden. 1. Hier wird das (heterosexuell gedachte) Paar zu einem Rechtssubjekt und nicht das Individuum. Geschlechterhistorisch ist das insofern bemerkenswert, als hier Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen überdeckt werden, indem der scheinbar neutrale Begriff des Paares verwendet wird. Das Recht auf Familienplanung wird hier also explizit nicht als individuelles Recht verstanden.

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Überreichung des Population Awards der Vereinten Nationen an Indira Gandhi 1983. Copyright: UN Photo/Yutaka Nagata

2. Paare sollen zwar frei entscheiden können, sich aber dabei verantwortungsvoll verhalten. In welchem Verhältnis Freiheit und Verantwortung stehen sollen, blieb jedoch offen. Dass diese Betonung verantwortungsvollen Verhaltens auch staatliche Eingriffe in individuelle reproduktive Entscheidungen legitimieren konnte, ist naheliegend. Tatsächlich lassen sich auch Beispiele dafür finden. In Indien etwa wurden während des von Indira Gandhi ausgerufenen Ausnahmezustands zwischen 1975 und 1977 8,3 Millionen Menschen sterilisiert. Die Maßnahmen wurden zum Teil mit Zwang und mit Hilfe der Polizei durchgesetzt. In einer Rede aus dem Jahr 1976 begründete Gandhi die drastischen Maßnahmen des Programms mit einem „Menschenrecht der Nation auf Entwicklung“.[7] Menschenrechte verstand sie damit als kollektive Rechte, die individuelle Freiheiten einschränken konnten.

Fazit

Die angeführten Beispiele lassen drei Schlussfolgerungen zu.

1. Es wurde deutlich, dass Bedeutungen von Menschenrechten nicht überzeitlich sind. Sie haben vielmehr historisch jeweils spezifische Bedeutungen, die vom Erfolg der Interventionen unterschiedlicher AkteurInnen abhängig sind.

2. Es zeigt sich, dass Menschenrechte trotz ihres supranationalen Universalitätsanspruches in Gesellschaften – oft Nationalstaaten – verortet sind, in denen das Verhältnis von Individuum und Kollektiv immer wieder aufs Neue ausgehandelt und bestimmt wird. Im historischen Verlauf nach 1945 setzten Menschenrechte dabei nicht nur moralische Grenzen für politisches Handeln fest, sondern konnten diese auch verschieben und Handlungsmöglichkeiten erweitern. Die Bezugnahme auf Menschenrechte ermöglichte bevölkerungspolitischen Organisationen etwa einen deutlich leichteren Zugang zu den Ressourcen der Vereinten Nationen. Staaten hatten mit einer Bezugnahme auf Menschenrechte eine bessere Möglichkeit, kontrovers diskutierte Maßnahmen der Geburtenkontrolle finanziell zu unterstützen oder durchzusetzen.

3. Die angeführten Beispiele verweisen auf eine ganze Reihe von geschlechterhistorischen Fragestellungen, ohne deren Berücksichtigung eine Historiographie der Menschenrechte unvollständig bleiben muss. Eine der zentralen Thesen der bisherigen Forschung besagt etwa, dass sich ein modernes, aktivistisches und individuelles Menschenrechtsverständnis in den 1970er Jahren durchgesetzt hat. Im Bereich globaler Bevölkerungspolitiken wäre es ohne die Interventionen der Zweiten Frauenbewegung wohl nicht zu diesem individuellen Rechtsverständnis gekommen. So wurde die bereits erwähnte Formulierung aus der Teheraner Menschenrechtskonferenz, die Paare als Rechtssubjekt definierte, auch von der Weltfrauenkonferenz 1975 in Mexico City diskutiert. Statt dem Menschenrecht für Paare war nun aber von einem Recht für Paare und Individuen die Rede.[8] Im Abschlussdokument der Weltfrauenkonferenz in Kopenhagen fünf Jahre später wurde nur mehr von Individuen gesprochen.[9]

Ohne eine Berücksichtigung feministischer Interventionen kann also die spezifische Veränderung des Menschenrechtsverständnisses in den 1970er Jahren nicht vollständig erzählt werden. In gleichem Maße wäre es für die historische Forschung aber wichtig, sich mit unkritischen Erfolgserzählungen über Kampagnen für reproduktive Rechte auseinanderzusetzen. Denn wie gezeigt wurde, resultierte die Übernahme menschenrechtlicher Narrative in erweiterten Handlungsmöglichkeiten auch für jene Organisationen und Staaten, die das individuelle Wohl der Betroffen dem Ziel einer Eindämmung des Bevölkerungswachstumes untergeordnet haben.

Roman Birke

Anmerkungen

[1] Für eine gute Zusammenfassung aktueller Debatten zur Geschichte der Menschenrechte vgl. Jan Eckel, The Rebirth of Politics from the Spirit of Morality: Explaining the Human Rights Revolution of the 1970s, in: Jan Eckel/Samuel Moyn, The Breakthrough. Human Rights in the 1970s, Philadelphia 2014, 226–259. Auf das weitgehende Fehlen der Kategorie Geschlecht in der Historiographie der Menschenrechte hat kürzlich erst Carola Sachse hingewiesen. Siehe: Carola Sachse, Leerstelle: Geschlecht. Zur Kritik der neueren zeithistorischen Menschenrechtsforschung, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 25/1 (2014), 103-121.

[2] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/10/china-one-child-reform/ (Zugriff: 17. Dezember 2015).

[3] Vgl. Diana Hummel, Der Bevölkerungsdiskurs. Demographisches Wissen und politische Macht, Opladen 2000, 43f.

[4] Vgl. Matthew Connelly, Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population, Cambrdige, Mass. 2010.

[5] Vgl. Ruth Dixon-Mueller, Population Policy & Women’s Rights. Transforming Reproductive Choice, Westport 1993; Paige Whaley Eager: From Population Control to Reproductive Rights: Understanding Normative Change in Global Population Policy (1965–1994), in: Global Society 18 (2) 2004, 145–173.

[6] Final Act of the International Conference on Human Rights. Teheran, 22 April to 13 May 1968, S. 14, vgl.: http://legal.un.org/avl/pdf/ha/fatchr/Final_Act_of_TehranConf.pdf (Zugriff: 17. Dezember 2015).

[7] „We must now act decisively and bring down the birth rate speedily to prevent the doubling of our population in a mere 28 years. We should not hesitate to take steps which might be described as drastic. Some personal rights have to be kept in abeyance, for the human rights of the nation, the right to live, the right to progress.“ Vgl. Shah Commission of Inquiry, Third and Final Report, 1978, 154.

[8] Report of the World Conference of the International Women’s Year, Mexico City, 19 June-2 July 1975, United Nations, New York 1976, 5.

[9] Report of the World Conference of the United Nations Decade for Women: Quality, Development and Peace, United Nations, New York 1980, 60.

By |2019-01-14T16:35:48+01:001. Januar 2016|ForschungsErgebnisse|0 Comments

Mag. Roman Birke, Historiker, Universitätsassistent (prae-doc) am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien; Dissertationsprojekt zu Menschenrechten und globalen Bevölkerungspolitiken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; zurzeit (Oktober 2015 bis März 2016) Marietta Blau-Stipendiat und Visiting Scholar an der Columbia University in New York City.