Geschlechterforschung – interdisziplinär und un/diszipliniert?!

Die Muse Kalliope.

Die Geschlechterforschung versteht sich als interdisziplinär und kokettiert bisweilen mit einem Selbstverständnis als ‚undiszipliniert‘. Was aber bedeuten diese Selbstverortungen für die Integration einer Geschlechterperspektive in die bestehenden Wissenschaftsdisziplinen und für ihre Konstitution als eigenständige Wissenschaft?

Der folgende Beitrag wurde als Vortrag bei der Buchpräsentation des fernetzt-Sammelbandes am 12. November 2016 in Wien gehalten.

Geschlechterforschung – interdisziplinär und un/diszipliniert. Dies ist der Gegenstand dieses Beitrages, dem ich mich im Folgenden aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive annähern werde. Anlass dieser Reflexion ist das Erscheinen von „Frauen- und Geschlechtergeschichte un/diszipliniert? Aktuelle Beiträge aus der jungen Forschung“, herausgegeben von Veronika Helfert, Jessica Richter, Brigitte Semanek, Alexia Bumbaris und Karolina Sigmund.

Da ich mich hier als politik- und sozialwissenschaftliche Geschlechterforscherin äußere, geht es im Folgenden allerdings nur am Rande um die feministische Geschichtswissenschaft bzw. um Theorien und Methoden der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Stattdessen nehme ich die Schwierigkeiten einer feministischen Politikwissenschaft zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen über die Geschlechterforschung als un- bzw. als interdisziplinäre Fachrichtung. Ich möchte Ihnen einen – ich hoffe kurzweiligen – Einblick in Herausforderungen geben, die damit verbunden sein könnten. Aus aktuellem Anlass werde ich hierbei – dem freudigen Anlass des Beitrages zum Trotz – vor den gegenwärtigen weltpolitischen Entwicklungen leider nicht haltmachen können.

Ortswechsel: Der Smalltalk beim Abendessen

Irgendwo auf einer interdisziplinären Tagung von Politik- und Geschichtswissenschaft.
Irgendwo in Deutschland.
Irgendwann im Jahr 2014…

„Sie wollen ja sicher nicht ewig bei den Gender Studies bleiben“ sagte dort ein bekannter deutscher Historiker zu mir. Die Tagungsgesellschaft – darunter diverse bekannte Gesichter der deutschsprachigen Politik- und Geschichtswissenschaft, u.a. eine Leibnitzpreisträgerin sowie der vielversprechende Nachwuchs – befindet sich beim Abendessen und ich sitze durch Zufall neben besagtem Historiker.

„Sie wollen ja sicher nicht ewig bei den Gender Studies bleiben“, ist sein Kommentar auf meine Erläuterung, dass ich gerade am Institut für Geschlechterforschung, Migration und Diversität an der Universität Luxemburg meine Dissertation abschließe – und aber eigentlich doch auch irgendwie Politologin bin.

Ich wollte mit meiner Erläuterung „eigentlich bin ich Politologin“ die Herausforderungen einer interdisziplinären Perspektive sowie eines wissenschaftlichen Disziplinwechsels ansprechen. Mein Gegenüber hingegen spielte auf die existierenden Hierarchien zwischen diesen wissenschaftlichen Disziplinen an. So offenbart sein Kommentar den für ihn so offensichtlichen Mangel an akademischem Prestige, der mit der Aussage „Ich bin Geschlechterforscherin“ – im Gegensatz zur Aussage „Eigentlich bin ich Politologin“ verbunden ist.

Die Formulierung „Eigentlich bin ich doch auch irgendwie Politologin“ hatte ich damals durchaus bewusst eingesetzt, um anzudeuten, dass man sich als politikwissenschaftliche Geschlechterforscherin oder als feministische Politologin innerhalb dieser Disziplin bisweilen recht einsam fühlen kann. Möglicherweise unterscheiden sich hier auch die Fachkulturen der Geschichts- und der Politikwissenschaft etwas voneinander.

Die Einsamkeit der feministischen Politikwissenschaftlerin

Denn anders als in der Geschichtswissenschaft, die neben der Allgemeinen Geschichte viele sogenannten „Bindestrich-Geschichten“ wie Sozialgeschichte, Globalgeschichte, Postkoloniale Geschichte, Körpergeschichte und eben auch Frauen- und Geschlechtergeschichte akzeptiert, besteht bei der üblichen Untergliederung der Politikwissenschaft in „(Vergleichende) Regierungslehre“, „Internationale Beziehungen“ und „Politische Theorie und Ideengeschichte“ die Herausforderung, die Geschlechterperspektive als ein Querschnittsthema in einem Mainstreamingprozess in die Disziplin zu integrieren. Ihrem Selbstverständnis seit der Nachkriegszeit zufolge, dies haben Politikwissenschaftlerinnen wie Eva Kreisky[1] und Birgit Sauer[2] brillant herausgearbeitet, versteht sich die Politikwissenschaft jedoch als eine ‚geschlechtslose‘ Disziplin, die ihren Androzentrismus und das „bewundernswert Männliche“ des Politischen bzw. des Staates (Tocqueville) zunächst einmal konsequent negiert.[3]

Die Folgen dieser Haltung lassen sich anhand der langen Liste toter weißer Männer illustrieren, die beispielsweise in der Politischen Theorie und Ideengeschichte als ‚Klassiker‘ oder als ‚Schlüsselwerke‘ behandelt werden. In einem Einführungsseminar beginnt diese Liste üblicherweise bei Platon und Aristoteles und führt über Bodin und Machiavelli zu den Vertragstheoretikern Hobbes, Locke, Kant und Rousseau – übrigens alles keine Denker, die mit ihrer Geschlechtertheorie auch nur einen Blumentopf gewinnen würden. Dies gilt nicht nur für feministische Perspektiven, sondern ebenso für rassismuskritische, postkoloniale Positionen. Vermutlich endet diese lange Liste dann irgendwo bei Karl Marx, Max Weber oder Carl Schmitt. Dass es sich hierbei ausschließlich um weiße Männer handelt, bleibt dabei gleichermaßen offensichtlich wie unausgesprochen. Die geschlechtertheoretischen Implikationen solcher Konzeptionen des Politischen sind hierbei ebenso unsichtbar wie der Eurozentrismus, der diese Auswahl unbewusst strukturiert. So erscheint es lediglich als Zufall, dass auf die Frage, nach dem Wesen des Politischen sowie den normativen Kriterien einer ‚guten Regierung‘, eines ‚guten Staates‘ oder einer ‚idealen Verfassung‘ noch heute lediglich die Antworten relevant und bedeutungsvoll erscheinen, die Männern seit mehr als 2000 Jahre auf diese Fragen gegeben haben.

Mit etwas Glück endet die Liste jedoch vielleicht bei Hannah Arendt. Arendts Verdienste um die Politische Theorie sind unbestritten, insbesondere ihre Entdeckung der Totalen Herrschaft als eine neue, auf die Zerstörung des Politischen gerichtete Staatsform, die ideologisch auf Antisemitismus und Imperialismus beruht.[4]

Little Rock Nine Monument in Arkansas (c) Wikimedia

Hingegen werden Versuche, Arendts Überlegungen auch als geschlechtertheoretische und feministische Werkzeuge zu nutzen, auch innerhalb der feministischen Wissenschaftscommunity kontrovers debattiert.[5] Dies liegt nicht zuletzt an Arendts Politikverständnis, welches – stark von Aristoteles geprägt – auf einer strikten Trennung zwischen dem Politischen sowie dem Öffentlichen einerseits und dem Privaten bzw. dem Sozialen andererseits basiert. Damit gerät aber gerade die Vergeschlechtlichung dieser Unterscheidung politisch/öffentlich vs. privat/sozial als deren konstitutives Moment aus dem Blick. Und so verwundert es dann auch nicht, dass Arendt sich über Geschlechterverhältnisse nur wenige Gedanken machte, und dass sie sich in zeitgenössischen Debatten und Kontroversen aus heutiger Sicht ausgesprochen konservativ positionierte. Auch die in ihren „Überlegungen zu Little Rock“ formulierte Kritik an der Entscheidung Schwarzer Eltern, ihre Kinder unter Polizeischutz auf eine ‚weiße‘ Schule zu schicken, zeugt bestenfalls von einem naiven Verständnis der rassistischen Zustände in den Vereinigten Staaten von Amerika am Ende der 1950er Jahre.[6]

Es bleibt der Verdienst antirassistischer, postkolonialer und feministischer politischer Theoretikerinnen wie Falguni A. Sheth[7], Nikita Dhawan[8] oder Erna Appelt[9], gezeigt zu haben, dass der vermeintliche ‚Universalismus‘ vieler politischer Theorien der sogenannten ‚Klassiker‘ konstitutiv auf dem Ausschluss von rassifizierten, ethnisierten und vergeschlechtlichten ‚Anderen‘ beruht: Historisch, aber auch gegenwärtig, betrifft dies insbesondere die Gruppe der Schwarzen, der Juden und Jüdinnen sowie der Frauen.[10] Trotz dieser wichtigen Interventionen bleibt die Kanonbildung davon jedoch weitestgehend unberührt, so dass in der Politischen Theorie und Ideengeschichte weiterhin eine männliche, eurozentristische Perspektive überwiegt.

Interdisziplinäre Geschlechterforschung

Ursprünglich war es meine Absicht, Ihnen an dieser Stelle – quasi als Gegenentwurf zu den hier skizzierten Schwierigkeiten, die Geschlechterforschung in eine – zugegebenermaßen konservative – Sozialwissenschaft zu integrieren, einen Überblick über die Etablierung interdisziplinärer Geschlechterforschung an den Universitäten zu geben.

Ursprünglich wollte ich Ihnen eine Erfolgsgeschichte der Etablierung von Geschlechterforschung an den Hochschulen erzählen – meiner Anekdote, die lediglich gewisse überholte Beharrungstendenzen illustrieren sollte, zum Trotz.

Natürlich wollte ich dabei auf die praktischen Herausforderungen zu sprechen kommen, die mit der Etablierung einer neuen Disziplin im Allgemeinen einhergehen. So existiert ein wenig beachtetes Spannungsfeld zwischen dem interdisziplinären Selbstverständnis der Gender Studies und der Tatsache, dass die allermeisten Genderprofessuren weiterhin in den klassischen Disziplinen verankert sind. Deshalb muss die Geschlechterforschung weiterhin sehr stark auf die anerkannten sozialwissenschaftlichen Fachgebiete bezogen bleiben. Möglicherweise führt dies zu unreflektierten disziplinären Verengungen des Blicks auf das interdisziplinäre Feld der Geschlechterforschung, da die eigene – disziplinäre – Perspektive gar nicht so einfach verlassen werden kann.[11]

Jedenfalls schränkt dies die eigenständige Nachwuchsrekrutierung der Geschlechterforschung erheblich ein. Für Nachwuchswissenschaftler*inn*en stellt dies – last but not least – eine zusätzliche ‚karrieretechnische‘ Hürde dar, da eine ‚zu frühe‘ interdisziplinäre Verortung in der Geschlechterforschung zu Anfang ihrer Laufbahn möglicherweise dazu führt, dass sie innerhalb ihrer ‚klassischen‘ Fachdisziplin als randständig, ‚exotisch‘ und schlussendlich als nicht professorabel wahrgenommen wird.

Zudem wollte ich auf einige wissenschaftstheoretische Herausforderungen und epistemologische Probleme eingehen, die durch die Geschlechterforschung selbst thematisiert werden. Hierunter fallen vor allem Fragen der Kanonbildung und der ‚Ordnung des Wissens‘, die einen „Sieg der Systematik über die Historie“ – und damit eine Ausblendung der Konfliktgeschichte der Geschlechterforschung – zur Folge haben.[12]

Heike Mauer bei der Buchpräsentation am 12.11.2016

Schließlich wollte ich in diesem Zusammenhang noch die eine oder andere spitzfindige Bemerkung über das Selbstverständnis der Geschlechterforschung als ‚undiszipliniert‘ verlieren und die Tendenz eine solche ‚Undiszipliniertheit‘ mit einer besonders ausgeprägten ‚kritischen Haltung‘ gleichzusetzen. Denn folgt man Sabine Hark, so kann den disziplinierenden, d.h. den einschränkenden und ausschließenden Effekten der Etablierung eines Fachs nicht mit Disziplinlosigkeit im Sinne von Willkür, sondern nur mit einer permanenten Reflexion dieser Disziplinbildung begegnet werden – eine Denkaufgabe, die selbst jedoch wiederum durchaus Disziplin erfordert.

Diese grobe Skizze des Vortrages hatte ich bereits vor längerer Zeit gemacht. Dann kam jedoch die Wahlentscheidung der wichtigsten Demokratie der ‚westlichen Welt‘ am 9. November 2016 dazwischen und ich habe festgestellt, dass es mir nicht wirklich möglich ist, Ihnen diesen heiteren – und harmlosen – Einblick in die Entwicklung der der universitären Geschlechterforschung zu geben.

Rechtspopulismus und Antifeminismus als Infragestellung von Wissenschaft

Auch wenn weder ich noch Sie in die Zukunft blicken können, und wir alle die konkreten Folgen der U.S.-amerikanischen Wahlentscheidung derzeit weder kennen noch abschließend beurteilen können, so ist die politische Symbolik aus feministischer und antirassistischer Perspektive zutiefst beunruhigend, dass mit Hillary Clinton eine Frau bei der Wahl zur amerikanischen Präsidentin gescheitert ist – und zwar nicht gegen irgendeinen Kandidaten, sondern gegen einen, der Sexismus, Homophobie und Rassismus zu seinem ureigensten Programm erhoben hat. Ebensowenig hoffnungsvoll stimmen auch die Entscheidungen, die der 45. Präsident der Vereinigten Staaten in den ersten zehn Tagen seiner Amtszeit bislang getroffen hat.

Antiamerikanische Reflexe bleiben jedoch fehl am Platz. Schließlich zeugen auch die politischen Entwicklungen in Europa von einer „Menschenrechtskrise“ (Sharon Dodua Otoo), die sich u.a. im Anwachsen des Rechtspopulismus als Reaktionen auf die derzeitigen Fluchtbewegungen manifestiert:[13] In Österreich konnte die drohende Wahl eines rechtspopulistischen Bundespräsidenten nur äußerst knapp verhindert werden. Dennoch wittern seit geraumer Zeit im restlichen Europa diverse rechtspopulistische Parteien und Bewegungen Morgenluft.

Als Geschlechterforscher*innen ist es meiner Ansicht nach unsere Aufgabe, dass wir uns mit den geschlechterpolitischen Implikationen des Rechtspopulismus auseinandersetzen. Antifeminismus und Sexismus stellen dabei – dies wäre hier zumindest meine These – einen wesentlichen Teil seiner Konstitutionsmerkmale dar. Dabei ist die rechtspopulistische Position scheinbar paradox, indem Gleichstellungspolitik als Teil einer verhassten ‚Genderideologie‘ aktiv bekämpft wird – Gleichstellungserfolge westlicher Gesellschaften zugleich jedoch auch instrumentalisiert werden, um Sexismus auf ‚Fremde‘ – allen voran Muslime und Flüchtlinge – projizieren zu können.

Die Geschlechterforschung steht – trotz ihrer zunehmenden Institutionalisierung – unter einem erhöhten Legitimitätsdruck. Zumindest in Deutschland gehört die Infragestellung des sozialwissenschaftlichen Wissens über Geschlecht für Teile des Feuilletons zum guten Ton. Diese Delegitimierung des durch die Geschlechterforschung produzierten ‚Wissens‘ wird zugleich von einer teilweise massiven Verleumdung von Genderforschenden flankiert, die im Jahr 2014 in Deutschland in Mord- und Vergewaltigungsdrohungen gegenüber einer Professorin für Geschlechter- und Sexualitätsforschung gipfelten.[14]

Dieser gegen die sogenannte ‚Political Correctness‘ gerichtete – bisweilen in Gewaltphantasien abdriftende – feuilletonistische Diskurs gegen das wissenschaftliche Wissen über Geschlecht, ist anschlussfähig an die hochschul-, familien- und geschlechterpolitischen Positionen rechtspopulistischer Parteien. Geschlecht erscheint dort – ebenso wie in rechtspopulistischen Diskursen – als eine so natürliche Kategorie auf, dass ihre wissenschaftliche Befragung sowie eine kritische Analyse des Alltagsverständnisses und des Alltagswissens von Geschlecht unmöglich erscheinen. Geschlechterwissen ist – so die rechtspopulistische Interpretation – Ideologie und entpuppt sich vermeintlich als das genaue Gegenteil von Wissen. Dass eine solche Position den ideologischen Gehalt der bürgerlichen Geschlechterordnung selbst wiederum negiert und naturalisiert, mag für uns offensichtlich sein, in der Öffentlichkeit bleibt diese Verkehrung von Ideologie und Wahrheit jedoch allzu oft unsichtbar.

Demgegenüber zeigt gerade die Frauen- und Geschlechtergeschichte auf, dass die Auffassungen über das biologische und über das soziale Geschlecht und die Geschlechterordnung historisiert werden müssen,[15] und dass die Bedeutung von Geschlecht nicht vorausgesetzt werden kann. Vielmehr gilt es, wie dies Andrea Griesebner und Christina Lutter formulieren, danach zu fragen „in welchen spezifischen Kontexten dem Frau- oder Mannsein Bedeutung beigemessen wurde“.[16] D.h. umgekehrt auch, dass die Kategorie Geschlecht „ihre Bedeutung immer auch in Relation zu anderen Differenzkategorien erhält“ und „sich die konkrete Bedeutung des Frau- oder Mannseins nicht ‚fixieren‘ [lässt]. […] [S]ie ergibt sich (vielmehr) aus spezifischen, sich historisch ändernden Bedingungen, Strukturen und Werten“.[17]

Letztlich bedrohen die hier geschilderten Angriffe auf die Geschlechterforschung die freie Wissenschaft als Ganze. Dies ist jedoch eine Position, die – davon zeugt letztlich auch der hier von mir lediglich anekdotisch angedeutete Diskurs innerhalb der Politik- und Geschichtswissenschaft – im Wissenschaftsbetrieb umkämpft ist.[18] Möglicherweise hilft es nicht, den Kommentar des von mir zitierten Kollegen einfach als sexistisch zu labeln und zu skandalisieren.

Möglicherweise ist es notwendig, dass wir als Geschlechterforschende die Relevanz und die Notwendigkeit von Geschlechterforschung immer wieder neu begründen – obwohl wir dies schon so lange tun, und obwohl wir davon vielleicht müde sind – und zwar denen gegenüber, die diesbezüglich im Hochschulbetrieb skeptisch sind. Möglicherweise erfordert dies nicht unbedingt die weitere Institutionalisierung der Geschlechterforschung als eigenständige Disziplin, sondern eine verstärkte Intervention innerhalb der bestehenden Fächer, um dort eine Sichtbarkeit zu erzeugen. Zugleich bleibt es notwendig, eine disziplinübergreifende Solidarität mit einer unter öffentlichem Beschuss stehenden Geschlechterforschung herzustellen und der Infragestellung ihrer Legitimität und ihrer Existenz aktiv zu begegnen.

Dies ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer unkritischen Affirmation des von der Geschlechterforschung generierten Wissens.

Jede Wissenschaft lebt von der kontinuierlichen Infragestellung des durch sie selbst produzierten Wissens. Die Geschlechterforschung ist da keine Ausnahme und die Art und Weise, wie wir heute über den Zusammenhang von Geschlecht, Sexualität, Identität, gesellschaftlicher Strukturierung und politischer Ordnung nachdenken, unterscheiden sich von Überlegungen, die vor zwanzig Jahren dazu formuliert wurden. Wissenschaftliches Wissen ist also durchaus als ‚situiert‘ und als umstritten zu begreifen – ohne dass es deshalb jedoch zwangsläufig ‚falsch‘ oder ‚illegitim‘ wird.[19]

Die Frage, wie das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Praxis und gesellschaftlicher bzw. politischer Intervention konkret ausgehandelt wird, stand auch im Zentrum der Tagung „Un-/diszipliniert. Methoden, Theorien und Positionen der Frauen- und Geschlechtergeschichte“, die im Februar 2012 an der Universität Wien stattgefunden hat und aus der das Buch entstanden ist, dessen Erscheinen dieser Beitrag würdigt.

Dabei hat die Frage, mit welchem normativen Gestus feministische Wissenschaft an ihre Gegenstände herantritt, diese seit Beginn an begleitet. Dass die Frauen- und Geschlechtergeschichte ebenso wie die feministische Wissenschaft insgesamt, ihrem Selbstverständnis nach vor allem eine Antwort auf gesellschaftliche Verhältnisse darstellt – nämlich die Geschlechterhierarchie und alle damit zusammenhängenden Vermachtungen und Herrschaftsstrukturen –, ist dabei unbestritten. Was aus diesem Impetus jedoch wissenschaftlich konkret folgen sollte, d.h. welche Gegenstände die Frauen- und Geschlechterforschung mit welchen Methoden und Theorien konkret beforschen sollte, wurde und wird unterschiedlich beantwortet.

Einige diesbezügliche theoretische Vorschläge und methodische Zugänge liefert der vorliegende Sammelband. In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine anregende Lektüre – und eine engagierte und kritische Debatte, die eruiert, inwiefern die hier publizierten Vorschläge tragfähig sind.

Heike Mauer

Beitragsbild

Aus: „Manual of mythology: Greek and Roman, Norse, and old German, Hindoo and Egyptian mythology“ (1875), S. 217.

Anmerkungen

[1] Kreisky, Eva. 1995. Der Stoff, aus dem die Staaten sind. Zur männerbündischen Fundierung politischer Ordnung. In Das Geschlechterverhältnis als Gegenstand der Sozialwissenschaften, eds. Regina Becker-Schmidt and Gudrun-Axeli Knapp. Frankfurt am Main, 85–124.

[2] Sauer, Birgit. 2001. Die Asche des Souveräns: Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte. Frankfurt am Main.

[3] Zit. nach Sauer 2001, S. 11.

[4] Arendt, Hannah. 2006 [1955]. Elemente und Ursprünge Totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totale Herrschaft. München.

[5] Honig, Bonnie. 1995. Feminist Interpretations of Hannah Arendt. University Park, Pa.

[6] Young-Bruehl, Elisabeth. 2000. Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit. Frankfurt am Main.

[7] Sheth, Falguni A. 2009. Toward a Political Philosophy of Race. Albany.

[8] Dhawan, Nikita. 2014. Decolonizing Enlightenment: Transnational Justice, Human Rights and Democracy in a Postcolonial World. Opladen.

[9] Appelt, Erna. 1999. Geschlecht – Staatsbürgerschaft – Nation: Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa. Frankfurt am Main.

[10] Vgl. Maihofer, Andrea. 2009. Dialektik der Aufklärung: Die Entstehung der modernen Gleichheitsidee, des Diskurses der qualitativen Geschlechterdifferenz und der Rassentheorie. Zeitschrift für Menschenrechte: 21–36.

[11] Vgl. Kahlert, Heike. 2005. Wissenschaftsentwicklung durch Inter- und Transdisziplinarität: Positionen der Frauen- und Geschlechterforschung. In Quer Denken – Strukturen Verändern: Gender Studies Zwischen Disziplinen, Heike Kahlert, Barbara Thiessen, Ines Weller (Hg.). Wiesbaden, 23–60.

[12] Hark, Sabine. 2005. Inter/Disziplinarität. Gender Studies Revisited. In Quer Denken – Strukturen Verändern: Gender Studies Zwischen Disziplinen, Heike Kahlert, Barbara Thiessen, Ines Weller (Hg.). Wiesbaden, 61–89.

[13] In den deutschen Medien ist häufig von der ‚Flüchtlingskrise‘ die Rede, so als läge das Problem bei den Menschen selbst – und nicht aber an den gesellschaftlichen Verwerfungen (Kriegen, Terror, Armut, etc.) vor denen sie fliehen. Hingegen spricht die Schriftstellerin, aktuelle Bachmann-Preisträgerin und Aktivistin Sharon Dodua Otoo, von der ich obigen Begriff entlehne, in treffender Weise von einer ‚Menschenrechtskrise‘. (vgl. Interview mit der Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo auf literaturportal-bayern.de [Zugriff am 19.10.2016])

[14] Vgl. Taz vom 27.7.2014: „Akif Pirinçci provoziert Mordaufruf“ [Zugriff am 17.6.2016].

[15] Vgl. Hausen, Karin. 1976. Die Polarisierung der ,Geschlechtscharaktere‘. Eine Spieglelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Werner Conze (Hg.). Stuttgart, 363–393, sowie Honegger, Claudia. 1991. Die Ordnung der Geschlechter. Frankfurt am Main.

[16] Griesebner, Andrea, und Christina Lutter. 2000. Geschlecht und Kultur. Ein Definitionsversuch zweier umstrittener Kategorien. Andrea Griesebner/Christina Lutter (Hg.), Beiträge zur Historischen Sozialkunde: Geschlecht und Kultur. Sondernummer: 58–64.

[17] Vgl. Griesebner und Lutter 2000.

[18] Bezüglich der Angriffe auf die Geschlechterforschung und die Bedrohung von WissenschaftlerInnen gab es jedoch auch außerhalb der Geschlechterforschung Solidaritätsbekundungen. Vgl. Exemplarisch die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. [Zugriff am 17.11.2016]

[19] Haraway, Donna. 1988. Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. Feminist Studies 14(3): 575–599.

Von |2018-11-24T04:13:05+01:001. Februar 2017|Gesellschaft&Geschichte|0 Kommentare

Heike Mauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen und eine der Sprecher*innen der Sektion 'Politik und Geschlecht' in der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DVPW). Sie forscht u.a. zu Intersektionalität, Prostitution und Antifeminismus sowie zu Gleichstellung an der Hochschule. Unter @HeikeMauer twittert sie über ihre Arbeit.

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