Wenn Welten kollidieren. Auf den Spuren von Frauen im spätmittelalterlichen Wien

Im Mittelalter wurden Frauen unterdrückt – oder? In diesem Beitrag geht es um eine Geschichte, in der Modernes und Vergangenes aufeinanderstoßen und sich herausstellt, dass alles viel komplizierter ist, als es scheinen mag.

Die Heiligen Maria und Elisabeth auf der Kärntner Straße, wie es im Mittelalter aussah, im Hintergrund St. Stephan und St. Peter
„Heimsuchung Mariens.“ Schottenaltar um 1470. Quelle: Geschichte Wiki Wien

Zeitreisen

Wien, 4. Februar 1389, altes Rathaus. Die Türen des Saals, in dem der Stadtrat tagt, öffnen sich. Die Blicke heben sich, als in einen Raum voller Männer eine einzige Frau tritt. Ulrich Zink, der reiche Tuchhändler, sitzt der Versammlung vor; er registriert das Eintreten der Neuangekommenen mit einem leichten Nicken. Die Frau ist schlicht gekleidet, doch sie bewegt sich mit dem Selbstvertrauen einer Königin.

Vor den Rat tritt heute Lucia, Witwe des Stephan Naezeuger“, verkündet Konrad Rock, der zu Ulrich Zinks Rechten sitzt. „Für sich und ihren unmündigen Sohn Johannes, in der Streitsache gegen ihren Schwiegersohn Heinrich von Jamnitz, in Vertretung seiner Frau Margarethe, die Tochter Lucias.“

Die Blicke des bereits eingetroffenen Heinrich und der sich nähernden Lucia treffen sich. Doch ein Blick, egal wie geladen, kann nur vage vermuten lassen, wie viele Monate der Auseinandersetzung dieser zu entscheidenden Streitsache vorangegangen sind.

Heinrich strafft seine Schultern, während Lucia mit ruhiger Eleganz auf der anderen Seite des Saales Platz nimmt.

Eine Stunde vergeht, in der die Konfliktparteien ihre Standpunkte darlegen: Beide erheben Anspruch auf die Erbmasse, die der verstorbene Stephan Naezeuger zurückgelassen hat. Es handelt sich um ein Haus am Hohen Markt und mehrere Weingärten. Stephan Naezeuger war alles andere als ein armer Mann.

Als Ulrich Zink nach intensiver Beratung mit den anderen Ratsherren ansetzt, den Richtspruch zu verlesen, ist die Spannung im Saal beinah physisch spürbar, wie im Moment kurz vor dem Ausbruch eines gewaltigen Sturms. Als die Aufteilung des Hauses und der Weingärten im Detail verkündet ist, wirft Lucia zum zweiten Mal seit ihrem Eintreffen einen Blick auf ihren Schwiegersohn. Ob ihr das triumphierende Lächeln wohl leichter fällt, weil er hier sitzt und nicht ihre eigene Tochter?

So könnte es geschehen sein – doch es ist höchst unwahrscheinlich. Tatsächlich gibt uns eine einzige Urkunde Auskunft über das Ereignis: der Richtspruch des Rates der Stadt Wien, der nüchtern allein die Entscheidung festhält.[1] Auch über Lucia Naezeugerin wissen wir wenig mehr, als in der Urkunde enthalten ist. Ein frustrierender Umstand, scheint es aus heutiger Perspektive doch bemerkenswert, dass sie sich 1389 als Frau selbst vor dem Rat vertrat und dass sie mit ihrer eigenen Tochter, vertreten durch ihren Mann, um das Erbe kämpfte. Und das im ‚dunklen‘ Mittelalter!

Lucia Naezeugerin ist in der Tat eine Ausnahme im Sample der Richtsprüche, die bis heute erhalten blieben. Diese Ausnahme weckte mein Interesse: Ich wollte mehr über diese Lucia Naezeugerin erfahren und tatsächlich fand ich ihren Namen in zwei weiteren Urkunden: im Testament ihres Mannes und in einem weiteren Richtspruch, in dem sie die angeklagte Partei war und sich erfolgreich gegen den Wiener Bürger Johann Stainer durchsetzte, der einen Geldanspruch an sie stellte.[2]

Unsere Quellen über Lucia Naezeugerin sind ‚Privaturkunden‘[3], die nicht dafür geschaffen wurden, uns Nachkommende über vergangene Verhältnisse in Kenntnis zu setzen. Im Gegenteil: Sie beinhalten allein jene Informationen, die für die Vertragsparteien von Relevanz waren. Und so bleiben bei modernen Leserinnen wie mir viele Fragen zurück. Die Lücken in der Erzählung können wir heute allein durch historische Fiktion füllen.

Doch wie trifft eine Carina Siegl, geboren im Jahr 1995, auf eine Lucia Naezeugerin, geboren irgendwann in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts? Wie entwickelt sie eine Neugierde auf die Umstände von Lucias Auftritt vor dem Stadtrat? Welche Vorannahmen liegen ihrem besonderen Interesse an dieser vor Jahrhunderten verstorbenen Frau zugrunde?

Kollision zweier Welten

Wien, 1. Oktober 2020, Universitäts-Hauptgebäude. Die Türen des Besprechungsraums öffnen sich. In dem Raum von mindestens drei Metern Höhe wirkt die Studentin, die eintritt, klein und etwas verloren. Ihr tapferes Lächeln kann kaum ihre Nervosität verbergen. Am Tisch, an den sie sich setzt, sitzen nur Männer.

Heute soll Carina etwas lernen, das ihr durch und durch fremd ist. Ihren akademischen Hintergrund hat sie in der Ideen- und Kulturgeschichte Großbritanniens und Frankreichs; nun soll sie befähigt werden, spätmittelalterliche Urkunden in mittelhochdeutscher Sprache in einer für XML-Dateien geschaffenen Programmiersprache zu kodieren, um Informationen über Personen, Organisationen und Rechtsgeschäfte quantitativ auswertbar zu machen.

Was für ein Unterfangen! Doch sie ist entschlossen, dass es ihr gelingen wird – trotz mangelnder Erfahrung, trotz ihrer Selbstzweifel. Sie packt ihr Notebook aus und strafft ihre Schultern: Es kann losgehen.

Als ich das Angebot bekam, einen Blogbeitrag über meine Forschung zu Frauen im spätmittelalterlichen Wien zu schreiben, war mir schnell klar, dass ich eine Geschichte erzählen musste. Und tatsächlich mangelt es nicht an Geschichten in meinen Quellen: Nein, es mangelt an Details.

Dann verstand ich, dass die Geschichten der Frauen in meinen Quellen nicht die einzigen lehrreichen Geschichten sind. Die vielleicht lehrreichste Geschichte ist meine eigene: Wie ich ahnungslos auf die Quellen stieß und – nach viel Irrtum und Anstrengung – zu einer grundlegenden Erkenntnis kam.

Die Chance, mich in die Quellen zur Geschichte der Stadt Wien (QGStW) – der Sammlung von Urkundenregesten, in der wir über Lucia Naezeugerin erfahren – zu vertiefen, gab mir Christina Lutter im Rahmen des von ihr geleiteten Projekts „Soziale Netzwerke im spätmittelalterlichen Wien“.[4] Mit der Kodierungsarbeit war die Möglichkeit verbunden, eine Masterarbeit über die zu bearbeitenden Quellen zu schreiben.

Eine mittelalterliche Privaturkunde mit zwei hängenden Siegeln.
Urkunde zur Geschichte der Stadt Wien. Quelle: WStLA HA Urkunden, 01172 recto.

Mir war bald klar, dass ich zu einem geschlechtergeschichtlichen Thema forschen wollte, nachdem die in den QGStW genannten Personen einen für das Spätmittelalter außergewöhnlich hohen Anteil von ca. 25 Prozent Frauen aufweisen.[5] Es zeigte sich auch schnell, dass es noch lange keinen Überschuss an einschlägigen Studien über Frauen im mittelalterlichen Wien bzw. Österreich gibt. Neben den grundlegenden Studien von Christina Lutter[6] – die mir in dem im Folgenden beschriebenen Unterfangen stets unterstützend beiseite stand – war wenig zu finden.

Zu Beginn besorgte ich mir also Überblickswerke über ‚Frauen im Mittelalter‘. Dort las ich viel über christliche Misogynie, ‚männliche‘ Vormundschaftsrechte und ‚weibliche‘ Passivität. Wenn ich heute mein Forschungstagebuch durchblättere, lese ich die Passagen von damals mit erheblichem Erschrecken, die zum Beispiel lauteten: „In christlich geprägten Gesellschaften im Mittelalter war die verbreitete Geschlechterkonzeption eine binäre zwischen Mann und Frau […] Frauen unterlagen der Herrschaft ihres männlichen ‚Muntwalts‘.“[7]

Nun… Wo war dann der ‚Muntwalt‘ von Lucia Naezeugerin im Jahr 1389? Oder jener von Swarza, einer Jüdin, die im Jahr 1375 ein Haus verkaufte, das sie zuvor für ein Gelddarlehen erhalten hatte?[8] Oder jener von Christine Brunnerin, Priorin des Klosters St. Laurenz, die 16 Schilling für ihre Klosterschwester Katharina kassierte?

Und wie konnte es sein, dass im maßgeblichen Handbuch über die Stadt Wien im Mittelalter Folgendes geschrieben war – „Die Bürger bildeten den politischen und wirtschaftlichen Kern der Bevölkerung.“ Und: „Wer Bürger werden wollte, musste das 18. Lebensjahr vollendet haben […] Nahm ihn die Gemeinde als Bürger auf, war eine Taxe zu entrichten […], nur Bürgersöhne waren davon befreit.“[9] –, wenn in meinen Quellen doch wortwürtlich auch von „Bürgerinnen“ die Rede war?

Ich beschloss, es selbst herauszufinden. Ich wollte wissen: Welche Handlungsspielräume hatten Frauen im spätmittelalterlichen Wien und welche Faktoren beeinflussten diese Handlungsspielräume?

Reklamation

Mein Quellenkorpus bestand aus 848 Urkundenregesten aus den QGStW (1370–1400) und 84 Testamenten von Frauen aus den Wiener Stadtbüchern (1395–1400).[10] Auf Basis dieses Korpus konnte ich keine aufregenden persönlichen Geschichten erzählen, wie ich es zu Beginn dieses Textes versucht habe. Doch ich konnte einige Tatsachen belegen, die auch rezentere geschichtswissenschaftliche Darstellungen in Frage stellen.

Frauen hatten Agency. Ob als Bürgerinnen genannt oder nicht, sie waren integraler Teil des wirtschaftlichen und politischen Lebens der Stadt. Sie konnten Liegenschaften kaufen und verkaufen. Sie verfügten über Vermögen, das sie ausgewählten Personen testamentarisch vermachen konnten. Sie waren Teil klösterlicher Gemeinschaften, die eine zentrale gesellschaftliche und politische Rolle in der Stadt spielten. Und sie trugen Konflikte aus – wie die eingangs genannte Lucia Naezeugerin im Jahr 1389.

Das Bild, das in der Literatur vermittelt wird, wenn von „Bürgern“, „Lehensherren“ und „Testamentsvollstreckern“ die Rede ist, ist also nicht richtig, jedenfalls ist es nicht differenziert genug. Natürlich haben Handbücher die undankbare Aufgabe, kein Thema im Detail behandeln zu können. Aber vor dem Hintergrund der bis heute verbreiteten Narrative der ‚unterdrückten Frau im Mittelalter‘ – die ich selbst als Studentin zum Teil abschrieb! – ist es wichtig, die Handlungsspielräume von Frauen sichtbar zu machen.

Mittelalterliche Lebenswelten waren nicht dominiert von einer Unterscheidung zwischen ‚Mann‘ und ‚Frau‘. Geschlecht war eine von vielen Differenzkategorien. Was etwa der wohlhabenden Bürgerin Lucia Naezeugerin möglich war, blieb wohl den allermeisten Männern verwehrt. Status, Beziehungen und Ressourcen beeinflussten die Handlungsspielräume aller Menschen. Und das ist die vielleicht grundlegendste Erkenntnis meiner Geschichte: Frauen wie Männer gestalteten ihre eigenen Lebensumstände sowie jene anderer aktiv mit – im Mittelalter ebenso wie in anderen Epochen.[11]

Carina Siegl

Bildnachweis

Abb. 1. Heimsuchung Mariens.“ Schottenaltar um 1470. https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Datei:HeimsuchungMariens.jpg. CC BY-NC-ND 4.0

Anmerkungen

[1] Karl Uhlirz (Hg.), Verzeichnis der Originalurkunden des Städtischen Archives 1239–1411, Wien 1898 (Quellen zur Geschichte der Stadt Wien (QGStW), Abt. 2: Regesten aus dem Archiv der Stadt Wien 1), Nr. 1172.

[2] QGStW, Bd. II/1, Nr. 1043 und 1374.

[3] Zum Begriff siehe: Thomas Vogtherr, Einführung in die Urkundenlehre (Stuttgart 22017), 12–13.

[4] Laufzeit 2020 bis 2021, geleitet von Christina Lutter und gefördert durch die Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7); Details findet man auf der Projektseite unter: https://stadtgemeinschaftwien.univie.ac.at/de/home/

[5] Christina Lutter – Daniel Frey – Herbert Krammer – Korbinian Grünwald, Soziale Netzwerke im spätmittelalterlichen Wien. Geschlecht, Verwandtschaft und Objektkultur, in: MEMO. Medieval and Early Modern Material Culture Online (2021), http://dx.doi.org/10.25536/2021q002 (31. Mai 2022).

[6] Zum Beispiel: Christina Lutter, Geschlecht & Wissen, Norm & Praxis, Lesen & Schreiben: Monastische Reformgemeinschaften im 12. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 43, Wien 2005).

[7] Zum Ursprung siehe etwa: Claudia Opitz, Frauenalltag im Spätmittelalter (1250–1500), in: Die Geschichte der Frauen, Bd. 2: Mittelalter., hg. von Georges Duby – Michelle Perrot, Frankfurt/New York/Paris 1993, 283–344. Für eine differenziertere Darstellung siehe: Gabriela Signori, Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft: Die Ehe in der mittelalterlichen Lebens- und Vorstellungswelt, Frankfurt/New York 2011 (Geschichte und Geschlechter 60).

[8] Siehe hierzu auch: Eveline Brugger – Birgit Wiedl (Hg.), Regesten zur Geschichte der Juden im Mittelalter, Band 3: 1366–1386, Innsbruck/Wien/Bozen 2015, 207.

[9] Richard Perger, Der organisatorische und wirtschaftliche Rahmen, in: Wien: Geschichte einer Stadt 1. Von den Anfängen bis zur Ersten Wiener Türkenbelagerung (1529), hg. von Peter Csendes – Ferdinand Opll, Wien/Köln/Weimar 2001, 199–246, hier 208–209.

[10] Wilhelm Brauneder – Gerhard Jaritz – Christian Neschwara (Hg.), Die Wiener Stadtbücher 1395–1430, Band 1–5, Wien/Köln/Graz 1989–2018 (Fontes Rerum Austriacarum 3/10/1).

[11] Für eine ausführliche Darstellung der diesem Blogbeitrag zugrundeliegenden Studie siehe: Carina Siegl, Frauen handeln: Geschlecht und ökonomische „Agency“ in Wien von 1370 bis 1404, in: Pro Civitate Austriae. Informationen zur Stadtgeschichtsforschung in Österreich, Neue Folge, Heft 27 (2022), 37-80. Online unter: https://geschichtsforschung.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_geschichtsforschung/Projekte/PCA_2022_Heft_27_Siegl.pdf

Von |2023-02-15T15:22:03+01:0015. Februar 2023|ForschungsAlltag|0 Kommentare

Carina Siegl ist Historikerin und Universitätsassistentin (prae doc) am Arbeitsbereich für Public History am Fakultätszentrum für transdisziplinäre historisch-kulturwissenschaftliche Studien. Sie absolvierte ihr Masterstudium mit den Schwerpunkten mittelalterliche Geschichte, historische Gender-Forschung und Digital Humanities. Seit Februar 2022 ist sie Redaktionsassistentin des Open Peer-Review Journals Public History Weekly.

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