Als Schaufensterpuppen die Lüsternheit reizten

Im Jahr 1956 wurde in Wien eine “weibliche” Schaufensterpuppe wegen angeblicher Jugendgefährdung durch “Reizung der Lüsternheit” angezeigt. Der Fall gibt Einblicke in die damalige Geschlechter- und Sexualmoral.

Im Oktober 1956 gab Oberwachmann F. nach einer Patrouille im Ersten Bezirk in Wien Folgendes zu Protokoll: Er habe im Auslagenfenster eines Autohauses eine lebensgroße Schaufensterpuppe entdeckt,

“die nur mit einem kurzen Hemd bekleidet ist. Der rechte Träger des Hemdes hängt über die Schulter herunter, sodaß die rechte Brust entblößt ist. Links seitlich hinter der Puppe liegen die restlichen Kleider des Mädchens. Rechts seitlich hinter der Puppe befindet sich, auf dem Boden stehend, eine Tafel, ca. 50 cm mal 40 cm groß, mit der Aufschrift: ‘Kleider machen nicht mehr Leute – ein Auto braucht man heute.’”

Mannequin Dekoration Auslage
Quelle: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Jugendgerichtshof, A3 – Vr-Strafakten, 1751/1956

Außerdem habe er beobachtet, “daß sich Kinder und Jugendliche längere Zeit vor dieser Auslage aufhalten, um die halbnackte Figur zu betrachten.” Bei vorangegangenen Patrouillen habe er außerdem festgestellt, “daß Vorübergehende die Aufstellung der Puppe als geschmacklos bezeichneten und sich abfällig darüber äußerten.”[1]

Oberwachmann F. erstattete Anzeige: Die Puppe stelle einen Verstoß gegen § 2 des sogenannten Schmutz- und Schundgesetzes dar. Und in der Tat: Die Anzeige zog ein wochenlanges polizeiliches Ermittlungsverfahren nach sich, in dem der Frage nachgegangen wurde, ob ein nackter Frauenkörper – wenngleich es sich nur um eine Schaufensterpuppe aus Plastik handelte – die Jugend gefährden und somit gegen das Schmutz- und Schundgesetz verstoßen könne. So kurios der Fall heutzutage auch anmutet – er bietet einen guten Einblick in Debatten rund um Sexualmoral und Geschlechterordnung im Österreich der 1950er Jahre.

Der Kampf gegen “Schmutz und Schund” und der Wiederaufbau Österreichs

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges und des Nationalsozialismus setzte in Österreich ein umfassender Nation-building-Prozess ein. Die junge Republik versuchte, sich aktiv von der Involvierung in Krieg und Nationalsozialismus zu distanzieren und stilisierte sich wirkmächtig als erstes Opfer der Naziaggression.[2]

Dies war die Geburtsstunde der sogenannten Opferthese, die jahrzehntelang Bestand haben sollte. Die offizielle Politik betonte unproblematische Aspekte wie die Schönheit der Natur und vor allem das große kulturelle Erbe des Landes und begründete somit die Vorstellung von Österreich als Kulturnation.[3]

Zwei zentrale Pressure Groups in diesem Zusammenhang waren die Katholische Kirche und die Österreichische Volkspartei (ÖVP). Beiden gelang es, die Kulturpolitik des neuen Österreichs mit ihren konservativ-katholischen Vorstellungen von (Hoch)Kultur und Nation zu beeinflussen.[4] Neben der Re-Katholisierung der Gesellschaft und einer bis heute wirkmächtigen Vorstellung von Hochkultur waren es auch Debatten über Sexualität, in denen der Umgang mit der Nazi-Vergangenheit diskutiert wurde. Wie Dagmar Herzog gezeigt hat, wurde das Naziregime in der Nachkriegszeit als sexuell zügellos interpretiert. Die Wiederherstellung einer rigiden Sexualmoral wurde daher von vielen ZeitgenossInnen als Beitrag zu Entnazifizierung und Demokratisierung verstanden.[5] In diesem Zusammenhang avancierte der Kampf gegen “Schmutz und Schund” zu einem wichtigen Spielfeld, um Österreichs Image als „sauberes“ und „unschuldiges“ Land zu sichern.

Unter Schmutz und Schund wurden im Laufe der Zeit die unterschiedlichsten Dinge verstanden, von Kriminalromanen über Comics bis hin zu sexualisierten Darstellungen. In der Nachkriegszeit bekam die Bekämpfung derartiger Medien im Kontext der Vergangenheitsbewältigung und der Debatte um ein zeitgemäßes österreichisches Selbstverständnis nun eine neue Dringlichkeit. Für die Katholische Kirche und die ÖVP war klar, dass von einem umfassenden Jugendschutz die Zukunft der Nation abhing. Dementsprechend intensiv wurde das Thema seit den späten 1940er Jahren diskutiert. Bald wurden auch Rufe nach rechtlichen Gegenmaßnahmen laut.

Das Schmutz- und Schund-Gesetz

Die Katholische Kirche und die ÖVP forderten die Einführung eines Anti-Schmutz- und Schundgesetzes. Auch die Sozialistische und die Kommunistische Partei waren an Jugendschutzmaßnahmen interessiert, befürchteten aber, dass ein Gesetz letztlich in Zensur und Medienregulierung resultieren könnte. Letztlich setzten sich die konservativen Kräfte durch und im Jahr 1950 kam es zur Etablierung des sogenannten Gesetzes über die Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen und den Schutz der Jugend gegen sittliche Gefährdung. Umgangssprachlich wurde das Gesetz einfach Schmutz- und Schundgesetz bzw. Pornographiegesetz genannt.[6]

Cover Gesetztext
Quelle: Erhart, Schmutz (vgl. Fußnote 7). Scan: Paul Horntrich

§ 1 stellte die Herstellung und Veröffentlichung von “unzüchtigem” Material im Allgemeinen unter Strafe. § 2 hingegen, der in Bezug auf die Schaufensterpuppe eine Rolle spielte, war eine ausdrückliche Jugendschutzbestimmung. Nach § 2a macht sich eines Vergehens schuldig,

“wer wissentlich eine Schrift, Abbildung oder sonstige Darstellung, die geeignet ist, die sittliche oder gesundheitliche Entwicklung jugendlicher Personen durch Reizung der Lüsternheit oder Irreleitung des Geschlechtstriebes zu gefährden, oder einen solchen Film oder Schallträger einer Person unter 16 Jahren gegen Entgelt anbietet oder überläßt”.

Durch § 2b war überdies geregelt, dass ein Vergehen auch dann begangen wird, wenn ein in § 2a geregelter Gegenstand “einem größeren Kreis von Personen unter 16 Jahren zugänglich wird”, auch ohne dass dafür ein Entgelt erhoben wird. Verstöße gegen § 2 des Gesetzes konnten mit Freiheitsstrafen von einem bis zu sechs Monaten und Geldstrafen von bis zu 250.000 Schilling geahndet werden – eine für damalige Verhältnisse unglaublich hohe Geldsumme.[7]

Mit der Einführung eines Schmutz- und Schundgesetzes stand Österreich damals nicht alleine da, vielmehr lag es im internationalen Trend. Die Schweiz hatte ein vergleichbares Gesetz bereits 1942 eingeführt.[8] Andere europäische Länder erließen ähnliche Gesetze dann nach dem Zweiten Weltkrieg, so folgten Frankreich im Jahr 1949, Westdeutschland im Jahr 1953 und England im Jahr 1959.[9]

Polizeiliche Ermittlungen

Mannequin Dekoration
Quelle: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Jugendgerichtshof, A3 – Vr-Strafakten, 1751/1956

Doch zurück zur Schaufensterpuppe. Auch wenn der Fall heutzutage skurril anmutet, war er doch typisch für die 1950er Jahre. Glücklicherweise haben sich fotografische Aufnahmen der Puppe erhalten. Walter A., der Besitzer des Autohauses, hatte die inkriminierte Schaufensterpuppe auf Anraten seines Architekten aufgestellt. Er hatte sein Geschäft gerade erst sanieren lassen und neu eröffnet. Die Puppe sollte nun “als Blickfang” dienen und KundInnen anlocken.[10] Die Puppe war nur mit einem schwarzen Negligé und einer Perlenhalskette bekleidet. Weitere Kleidungsstücke wie eine Bluse, ein Hut und Stiefel lagen verstreut am Boden. Die Aufmachung suggerierte, dass “sie” sich gerade entkleidet habe. In Kombination mit der Texttafel, die auf das alte Sprichwort “Kleider machen Leute” anspielt, ergibt sich eine eindeutige Lesart: Der Erwerb eines eigenen Autos gehört zu einem modernen und “sexy” Lifestyle.

Interessant ist, dass bei den nun einsetzenden polizeilichen Ermittlungen der ‚Frauenkörper‘ im Mittelpunkt stand. Zentral war dabei die heutzutage kurios anmutende Frage, wie sehr die Brust der Puppe entblößt war – hing davon doch ab, ob der Straftatbestand der “Reizung der Lüsternheit” bzw. “Irreleitung des Geschlechtstriebes” erfüllt war oder nicht.

Im ersten Polizeibericht heißt es dazu: “Der rechte Träger ist über die Schulter der Puppe gezogen, wodurch die rechte Brust fast zur Gänze zum Vorschein kommt.”[11] Im Zuge der Ermittlungen gab ein weiterer Polizeibeamter dann zu Protokoll, dass die Brust ursprünglich noch weiter entblößt gewesen wäre als auf den Fotos zu sehen sei. Um die Richtigkeit seiner Aussage zu untermauern, fügte er hinzu, er habe sogar erkannt, dass die Puppe weder Brustwarzen noch Warzenhöfe habe.[12] Weil man sich am Polizeikommissariat Innere Stadt nicht ganz sicher war, wie das Schmutz- und Schundgesetz auszulegen sei, fragte man bei der Gerichtlichen Pressepolizei an, “ob derzeit oder solange die Brust der Modellpuppe entblöst [sic!] war” wirklich der Straftatbestand erfüllt sei.[13] Die Pressepolizei hielt Nachschau und stellte fest, dass Ermittlungen in Richtung § 2 durch die nackte Brust tatsächlich gerechtfertigt wären.[14]

Auch wenn die Ermittlungen der Polizei heutzutage befremdlich wirken, sagen sie doch einiges über die damaligen Moralvorstellungen aus. Der nackte weibliche Körper wurde als Gefahrenquelle aufgefasst, selbst wenn er nur aus Plastik war. Nacktheit im öffentlichen Raum galt als Transgression, auch wenn es sich bloß um eine Puppe in Menschengestalt handelte.

Doch keine Sittengefährdung

Mannequin Dekoration Negligee Perlenkette
Quelle: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Jugendgerichtshof, A3 – Vr-Strafakten, 1751/1956

Eine tatsächliche Gefährdung von Jugendlichen konnte schließlich aber nicht nachgewiesen werden. So gab ein Polizeibeamter zwar an, er habe 14- bis 15-jährige Burschen vor dem Schaufenster gesehen, die “sehr interessiert die Puppe betrachteten”. Ein anderer hingegen meinte, er habe niemals Jugendliche vor dem Schaufenster gesehen.[15] Da die Strafakten keine Vernehmungsprotokolle mit Jugendlichen enthalten, ist es der Polizei offensichtlich nicht gelungen, den Straftatbestand nachzuweisen. Schließlich wurde das Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt. Der öffentliche Druck, der entstanden war, hatte dennoch einen Effekt: Walter A. entfernte die beanstandete Schaufensterpuppe und ersetzte sie auch durch keine weitere.[16] AnrainerInnen, die Innenstadt-ÖVP und die Katholische Jugend hatten nämlich gegen das Mannequin über Anzeigen und Beschwerden mobil gemacht.[17] Somit verschwand die “sittengefährdende” Schaufensterpuppe letztlich doch noch aus der Öffentlichkeit – und Oberwachmann F. wurde nicht mehr von leicht bekleideten Schaufensterpuppen belästigt.

Weiterlesen: Eine umfassende Analyse, wie im Wien der 1950er Jahre gegen sexualisierte Darstellungen im öffentlichen Raum vorgegangen wurde, kann unter https://revues.mshparisnord.fr/rhc/index.php?id=1988 nachgelesen werden.

Paul Horntrich

Anmerkungen

[1] Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Jugendgerichtshof (JGH), A3 – Vr-Strafakten, 1751/1956, 3r. Eine ausführliche Analyse dieses Gerichtsfalls ist ursprünglich erschienen in Paul M. Horntrich, “Advertising, Striptease, and the Lure of a Shop Window Mannequin: Reconstructing the Eroticized City Landscape of 1950s Vienna”, Revue d’histoire culturelle 4 (2022), https://revues.mshparisnord.fr/rhc/index.php?id=1988.

[2] Gerhard Botz, “Geschichte und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Republik. Opferthese, Lebenslüge und Geschichtstabu in der Zeitgeschichtsschreibung”, in Wolfgang Kos (Hg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, 51-85.

[3] Marion Knapp, Österreichische Kulturpolitik und das Bild der Kulturnation: Kontinuität und Diskontinuität in der Kulturpolitik des Bundes seit 1945, Frankfurt am Main/Wien 2005, 48-51, 91-99. Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik: Österreich 1945 bis 2015, Aktualisierte und erw. Neuausg, Wien 2015, 19-60.

[4] Ingeborg Schödl, Vom Aufbruch in die Krise: die Kirche in Österreich ab 1945, Innsbruck/Wien 2011, 13-57.

[5] Dagmar Herzog, Sex after Fascism. Memory and Morality in Twentieth-Century Germany, Princeton 2005.

[6] Flandera, Schmutz, 220-226; Edith Blaschitz, Der „Kampf gegen Schmutz und Schund“. Film, Gesellschaft und die Konstruktion nationaler Identität in Österreich (1946-1970), Wien 2014, 76-85; Elisabeth Holzleithner, Grenzziehungen. Pornographie, Recht und Moral, unveröff. Diss., Wien 2000, 41-49; Sabine Scholz, Die Entwicklung der österreichischen Pornographiegesetzgebung seit 1740, Frankfurt am Main/Berlin 1999,152-174.

[7] Franz Erhart, Das Schmutz- und Schundgesetz. Gesetz über die Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen und den Schutz der Jugend gegen sittliche Gefährdung vom 31. März 1950, Graz/Wien/Köln 1955, 9, 37-38.

[8] Jeannette Spreuer, Der Kampf gegen Schmutz und Schund in der Schweiz der fünfziger Jahre. Der Umgang von Politik und Gesellschaft mit Pornografie und Comics, Saarbrücken 2014, 27-33.

[9] Sibylle Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam: der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, München 2011, 50-85; Sylvie Chaperon, “The Revival of Sexuality Studies in France in the Late 1950s”, in Gert Hekma, Alain Giami (Hg.), Sexual Revolutions, Basingstoke 2014, 141-154, 143-144; Christopher Hilliard, A Matter of Obscenity: The Politics of Censorship in Modern England, Princeton 2021, 61-87.

[10] WStLA, JGH, A3 – Vr-Strafakten, 1751/1956, 25v.

[11] WStLA, JGH, A3 – Vr-Strafakten, 1751/1956, 5v.

[12] WStLA, JGH, A3 – Vr-Strafakten, 1751/1956, 31v.

[13] WStLA, JGH, A3 – Vr-Strafakten, 1751/1956, 17r.

[14] WStLA, JGH, A3 – Vr-Strafakten, 1751/1956, 19v.

[15] WStLA, JGH, A3 – Vr-Strafakten, 1751/1956, 27r-31v.

[16] WStLA, JGH, A3 – Vr-Strafakten, 1751/1956, 31v.

[17] WStLA, JGH, A3 – Vr-Strafakten, 1751/1956, 5r und 15r.

By |2023-01-19T17:02:39+01:0019. Januar 2023|ForschungsErgebnisse|0 Comments

Paul M. Horntrich, derzeit tätig als Universitätsassistent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Laufendes Forschungsprojekt „Pornographie in Österreich. Politische Debatten und mediale Diskussionen während der langen Sexuellen Revolution, 1950er bis frühe 1980er Jahre“. Davor Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie und Linguistik an den Universitäten Wien und Southampton, UK.

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