„Weibliche“ und „männliche“ Überlebensweisen im Konzentrationslager?

Liebevoller Trost in „Lagerfamilien“ einerseits, „Einzelkämpfer“ und „Kameradschaft“ andererseits – Vorstellungen über geschlechtsspezifische Weisen des Überlebens finden sich in vielen Erinnerungsberichten ehemaliger Gefangener nationalsozialistischer Konzentrationslager.

Überlebende des Frauen-Konzentrationslagers Hannover-Limmer

Gefangene aus dem KZ Limmer wenige Tage nach der Befreiung vor ihrer Baracke. CEGESOMA, Sign. CEGES CA NEG 224 (Foto: Raphaël Algoet)

In der heutigen Landeshauptstadt Niedersachsens, Hannover, befanden sich ab dem Sommer 1944 sieben Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme. Sie waren von Privatfirmen errichtet und die Gefangenen von der SS „gemietet“ worden, um das Versiegen des Nachschubs an Zwangsarbeiter_innen seit dem Ende der „Blitzkriege“ auszugleichen.

Das KZ im Stadtteil Limmer gehörte zur Continental AG – auch heute noch eine der Weltmarktführerinnen in der Reifenproduktion. Etwas mehr als 1000 Frauen waren hier eingesperrt – in erster Linie Résistance-Angehörige aus Frankreich sowie nach Niederschlagung des Warschauer Aufstandes deportierte Polinnen, aber auch Romnija aus dem Baltikum, Rotarmistinnen, spanische Republikanerinnen und andere. Sie alle waren zuvor in anderen Lagern (etwa Ravensbrück, Stutthof, Auschwitz) gefangen gewesen.

Im Lager Limmer litten die Frauen unter der harten Arbeit, den Schlägen der Aufseherinnen und den alltäglichen Demütigungen, vor allem aber an der systematischen Unterernährung. Krankheiten und Ungeziefer grassierten. Zwei Frauen starben hier, viele weitere in Bergen-Belsen, wohin das Lager kurz vor der Ankunft amerikanischer Truppen im April 1945 „evakuiert“ wurde.

Psychisches Überleben

Die Einlieferung in den Lagerkosmos zerstörte das zuvor gewohnte Welterleben radikal und griff die Subjektivität der Gefangenen an ihren Wurzeln an. Doch die absolute Macht und Ohnmacht, die hier herrschte, war nicht gänzlich bruchlos.

In den vielfältigen Berichten der Frauen aus dem KZ Limmer (Zeuginnenaussagen vor Gericht, autobiographische Bücher, Aufsätze und Broschüren, Oral History-Interviews) werden immer wieder resistente Akte hervorgehoben: Das Gefangensein wurde in sinnstiftende politische oder religiöse Systeme eingeordnet und die schockierende Erfahrung dadurch zumindest gedanklich handhabbar gemacht; Erinnerungen an die Welt außerhalb der Lager wurden bewahrt und Rückkehrphantasien gepflegt; die Frauen sahen sich als Teil der Alliierten, der zukünftigen Sieger_innen und Rächer_innen; und schließlich wagten sie sogar punktuell offenen Widerstand und verübten Sabotage.

So verweigerten Gefangene beispielsweise die Annahme von Prämienscheinen, die eingeführt werden sollten, um einzelne Gefangene zu belohnen und sie gegeneinander auszuspielen. Stéphanie Kuder, eine ehemalige Gefangene aus der Résistance, berichtet in heroisierendem Tonfall in einem Aufsatz für eine Gedenkschrift zum Widerstand an der Université de Strasbourg vom gemeinsamen Ungehorsam gegenüber der SS und der dabei bewahrten solidarischen Haltung:

„Als die ‚Chefin‘ [der SS-Aufseherinnen] wiederkommt, gibt es keinerlei Bewegung in unseren Reihen. Sie beschimpft uns, droht uns: ‚Das ist ein Aufstand, ihr wisst genau, was euch das kostet!‘ Wir fühlen uns stark, sind stolz auf unser Opfer. Was auch immer der Preis sein mag, wir geben nicht nach.
Einige Stunden später kommt die Lagerleitung wieder. Die ‚Chefin‘ schwenkt eine riesige Schere, packt die erstbeste Frau, die sie erreicht, ohrfeigt sie, zieht sie an den Haaren und verspricht, dass die ganze erste Reihe geschoren wird. Die anderen ‚Mäuse‘ [Aufseherinnen] dringen in unsere Reihen ein, stoßen uns, verteilen Faustschläge und Fußtritte. Der Oberscharführer überwacht eisig die Szene und fährt zärtlich mit der Hand über seine Pistole. Dann plötzlich kühlt die Stimmung ab, sie verschwinden […].“[1]

In etlichen Berichten taucht das mühsame Umnähen der gestreiften KZ-Anzüge als bedeutsame Handlung auf. Insbesondere das Anfertigen von BHs wird mehrfach erwähnt. Dies diente der Erinnerung an das Dasein außerhalb des entmenschlichenden Elends und der Hässlichkeit im Lagerkosmos:

„Wir hatten hässliche Streifenanzüge, die bis zum Fußknöchel gingen. Sie schnitt ihren Anzug auf Höhe der Knie ab und nähte daraus Seitentaschen, einen Gürtel und einen BH. Wanda wurde so fesch und schön in dem genähten Kleid.“ (Maria K.)[2]

Die so errungenen und verteidigten „Territorien des Selbst“, ein Begriff der Soziologin Maja Suderland[3], die diese Mechanismen genau untersucht hat, bedurften der Bestätigung durch andere. Sie entstanden nicht in der Einsamkeit, sondern im subjektivitätserhaltenden Miteinander.

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Werbeplakat der Continental während des 2. Weltkriegs (AK ‚Ein Mahnmal für das Frauen-KZ in Limmer‘)

Lagerfamilien

Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, der selbst Buchenwald und Dachau überlebte, und der Soziologe Wolfgang Sofsky beschreiben die Reduktion von Freundschaften im KZ auf bloß situative Momente. Die „serielle Masse“ der KZ-Gesellschaft sei von Bindungslosigkeit geprägt gewesen. Mentale Fluchten und „sentimentales“ Erinnern an die friedliche Vergangenheit hätten die Konzentration auf die gegenwärtigen Herausforderungen und das an die Lagerrealität angepasste Durchhaltevermögen geschwächt.[4]

Bettelheims Einschätzung ist in der Perspektive der männlichen, alten (d.h. schon jahrelang inhaftierten) Insassen verhaftet. Aber entgegen dieser Darstellung von Häftlingen, die alles taten, um das unerträgliche Heimweh und alle enttäuschbaren emotionalen Bindungen von sich fern zu halten, zeigt sich in den Berichten der weiblichen, neuen Häftlinge aus dem KZ Limmer auch die Bedeutung liebevoller und dauerhafter Beziehungen als Inseln im Kosmos der Konzentrationslager.

Hans Ellger, ein Historiker, der intensiv zu den Außenlagern Neuengammes gearbeitet hat, knüpft an die in den Berichten ehemaliger weiblicher Gefangener verbreitete Deutung an, dass – wie Hanna Lévy im August 1944 in Bergen-Belsen schreibt: „die Männer viel schwächer und weniger widerstandsfähig sind als die Frauen. Physisch und sehr oft auch moralisch.“[5] Ellger hebt die Bedeutung geschlechtsspezifischer „sozialisationsbedingter Fähigkeiten“ hervor, die zu spezifisch „weiblichen Überlebensstrategien“ geführt hätten: In „Lagerfamilien“ hätten die Frauen einander emotionalen Beistand geleistet und das Essen gerecht geteilt. Da sie zudem besser kochen und nähen konnten, sei es ihnen eher möglich gewesen, im Lager die wenigen vorhandenen Ressourcen zu verwerten.[6]

Nachträglichkeit

Die Bruchlosigkeit dieser Erzählung über „die Frauen“ lässt zögern. In den Erinnerungen und historischen Darstellungen der „Lagerfamilie“ bleibt oftmals unterbetont, dass auch unsoziale und feindliche Verhaltensweisen unter den weiblichen Gefangenen auftraten. Nahrungs- und Kleiderdiebstähle, unbarmherzige Ächtungen und Ausschlüsse einzelner Frauen werden in den Berichten aus Limmer zwar angedeutet, kaum aber ausführlich berichtet. Selbstsein und Mitmenschlichkeit entsprangen nicht einfach einem „weiblichen“ Sozialcharakter, sondern mussten  dem KZ-Kosmos abgetrotzt werden.

Die kulturellen Weiblichkeitsentwürfe stellten allerdings Ressourcen zur Verfügung, die es leichter machten, sich zum Aufeinanderverwiesensein zu bekennen und gegenseitig zu unterstützen. Auch die Erinnerungsmuster an die KZ-Haft sind von solchen geschlechtsbezogenen Normen gefärbt. So werden als „verweiblichend“ angesehene Erlebnisse und Verhaltensweisen in der männlichen Erinnerung eher ausgespart oder mit anderen Worten umschrieben. Weibliche Überlebende reden eher von „Lagerfamilien“, während  Männer sich an „Kameradschaft“ erinnern. Ganz anders als der heroisierend-„männliche“ Bericht Kuders klingen beispielsweise die Schilderungen ihrer Mitgefangenen Simonne Rohner über den Transport in Viehwaggons nach Hannover:

„Madeleine und ich hatten uns in ihre fellgefütterte Decke eingewickelt, ich hörte sie leise weinen. Wie viele von uns ließen so leise ihren Tränen freien Lauf? […] Lisette hatte ihren Arm um meinen Hals gelegt, ich spürte ihren Atem auf meinem Gesicht.“ (Simonne Rohner)[7]

Solche Schilderungen der existentiellen Wichtigkeit tröstender und haltender körperlicher Nähe finden sich in Berichten männlicher Gefangener nur äußerst selten – in denen der Frauen aus Limmer tauchen sie regelmäßig auf.

Dies wurde auch in die Sprache der historischen Forschung übernommen: In einem Aufsatz benutzt etwa der Leiter der Gedenkstätte Neuengamme, Detlef Garbe, wenn er über männliche Gefangene schreibt, Worte wie „Kleingruppen“, „Solidarität“ und „Kameraden“, bei den Frauen heißt es dagegen „Freundschaften“, „Familienersatz“, „enge Bindungen“, „Lagerschwestern“ und „Bezugsgruppe“.[8]

Geschlechtliche Kontinuität

Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der realen Verhaltensweisen im Lager lässt sich quellenmäßig nur schwer erschließen. Hier wäre die Aufmerksamkeit insbesondere auch auf die Auslassungen und Andeutungen in den Überlieferungen zu lenken. Die Berichte der ehemaligen Gefangenen sind dagegen zunächst oft auffällig geschlechterstereotyp (wovon sich die Forschung teilweise hat täuschen lassen).

Ich will mit der These schließen, dass dieses zum Teil klischiert anmutende Erinnern, Erzählen und Wahrnehmen als ein psychischer Überlebensmechanismus zu verstehen ist: Das Aufrechterhalten von Resten des aus der Welt vor der KZ-Haft vertrauten Doing Genders, vor allem aber entsprechender (Selbst-)Wahrnehmungen, ermöglichte es, ein Gefühl persönlicher Kontinuität und Resistenz gegenüber dem KZ-Kosmos zu erhalten. Männer versuchten oft „männlich“ und Frauen „weiblich“ zu bleiben.

Und wenn dies angesichts der Umstände kaum möglich war, so war es umso wichtiger, sich entsprechend zu erinnern: an Lagerfamilien, einsame Kämpfer, Widerstand und Kameradschaft. Die Gefangenen versuchten sich auch über ihre Selbstvergeschlechtlichung dem demütigenden Elend und der Entmenschlichung zu verweigern und sich dem Dasein als Opfer und willenlose Verfügungsmasse entgegen zu stemmen.

Sebastian Winter
Voraussichtlich Anfang 2017 wird eine umfangreiche Monographie zum KZ Limmer erscheinen, die Dokumentationen zahlreicher Berichte ehemaliger Gefangener beinhalten wird.

Webseite des AK „Ein Mahnmal für das Frauen-KZ in Limmer“

Anmerkungen

[1] Stéphanie Kuder (1947): Von Ravensbrück nach Hannover-Limmer und nach Bergen-Belsen. In: Université Strasbourg (Hg.): De l’Université aux Camps de Concentration. Strasbourg 1996 (Presses Universitaires de Strasbourg), URL: http://www.kz-limmer.de/tl_files/pdf/geschichte/kuder.pdf (Stand: 21.01.2016).

[2] Interview mit Maria K., 1999, zit. nach Anschütz, Janet/Heike, Irmtraud (2003): „Man hörte auf, ein Mensch zu sein“. Überlebende aus den Frauenkonzentrationslagern in Langenhagen und Limmer berichten. Hamburg (VSA), S. 118.

[3] Suderland, Maja (2004): Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager. Frankfurt a.M. (Campus).

[4] Bettelheim, Bruno (1943): Individual and mass behavior in extreme situations. In: Journal of Abnormal and Social Psychology, 38(4), S. 417-452; Sofsky, Wolfgang (1997): Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a.M. (Fischer), S. 86ff., 107f.

[5] Hanna Lévy-Hass, zit. nach Füllberg-Stolberg, Claus/Pfingsten, Gabriele (1998): Frauen in Konzentrationslagern – geschlechtsspezifische Bedingungen des Überlebens. In: Herbert, Ulrich/Orth, Karin/Dieckmann, Christoph (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, Entwicklung und Struktur. Göttingen (Wallstein), S. 911-938, hier S. 926f.

[6] Ellger, Hans (2007): Zwangsarbeit und weibliche Überlebensstrategien. Die Geschichte der Frauenaußenlager des Konzentrationslagers Neuengamme 1944/45. Berlin (Metropol), S. 299ff.

[7] Simonne Rohner (1945): En enfer … 9 Février 1944 / 8 Mai 1945. Guerre 1939 / 1945. Nice 1988 (Selbstverlag) (Übers. AK ‚Ein Mahnmal für das Frauen-KZ in Limmer‘).

[8] Garbe, Detlef (2005): Selbstbehauptung und Widerstand. In: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. I. Die Organisation des Terrors, München (Beck), S. 242-257.

Weiterführende Literatur

AK „Ein Mahnmal für das Frauen-KZ in Limmer“ (2011). Einen Ort der Erinnerung schaffen. KZ und Zwangsarbeit in Hannover-Limmer 1944/45. Hannover (Selbstverlag). Download (Stand: 21.01.2016).

Buggeln, Marc (2009): Arbeit und Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme. Göttingen (Wallstein).

Füllberg-Stolberg, Claus (1985): Frauen im Konzentrationslager: Langenhagen und Limmer. In: Fröbe, Rainer u. a.: Konzentrationslager in Hannover. KZ-Arbeit und Rüstungsindustrie in der Spätphase des Zweiten Weltkriegs. Hildesheim (Lax), Bd. I, S. 277-329.

Von |2019-01-14T16:48:42+01:0015. Februar 2016|ForschungsErgebnisse|1 Kommentar

Dr. Sebastian Winter, Sozialpsychologe, Postdoc-Stipendiat der Universität Bielefeld, Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF), Promotion über "Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung "Das Schwarze Korps", Habilitationsprojekt zum Thema "Vatersein mit Leib und Seele? Affektive Konflikte im väterlichen Erleben der Kinderpflege", Mitglied im AK "Ein Mahnmal für das Frauen-KZ in Limmer". Eigene Homepage: www.agpolpsy.de/koordination/winter

Ein Kommentar

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