Die Schweiz und Österreich gingen in der Regelung des Schutzalters unterschiedliche Wege. Gleichwohl zeigen sich in Strafprozessen frappante Ähnlichkeiten: Fotografien fungierten in beiden Ländern als wichtiges Beweisstück und entschieden wesentlich über die „Schutzwürdigkeit“ unmündiger Mädchen.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert setzten sich Kinderschutz- und Frauenorganisationen in zahlreichen Ländern mit dem sexuellen Schutzalter auseinander und verlangten, die nationalen Strafrechtsbestimmungen zu revidieren und die Schutzbestimmungen für Kinder auszubauen. Die Aktivist*innen vernetzten sich auch auf internationaler Ebene und arbeiteten darauf hin, die Altersgrenzen anzuheben.[1]
Trotz dieses frühen Austauschs über die Staatsgrenzen hinweg, gelang es im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht, die strafrechtlichen Bestimmungen zum Schutzalter international zu vereinheitlichen. Selbst zwischen Nachbarländern bestanden – und bestehen bis heute – beträchtliche Unterschiede in der gesetzlichen Regelung.
Österreich und die Schweiz
Dies lässt sich am Beispiel von Österreich und der Schweiz aufzeigen: Mit dem Strafgesetz von 1852 verankerte Österreich das Schutzalter bei 14 Jahren. Die Schweiz hingegen, die erst 1942 ein nationales Strafrecht einführte, setzte das sexuelle Schutzalter bei 16 Jahren fest. Beide Länder kannten zahlreiche alters- und geschlechtsspezifische Sonderbestimmungen; auch führten sie im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedene Reformen durch. Im Wesentlichen hielten sie aber bis heute am Schutzalter von 14 respektive 16 Jahren fest. Bis zu diesem Alter gelten Mädchen und Jungen als sexualunmündig.[2]
Vergleichende Perspektive auf Strafprozesse
Die Schweiz stellt(e) Mädchen und Jungen – zumindest de jure – somit länger unter sexuelle Schutzbestimmungen als Österreich.[3] Zwangsläufig ergaben sich dadurch unterschiedliche Ausgangslagen für die Strafprozesse zu Verletzungen des Schutzalters. Dies zeigen vergleichende Untersuchungen zu den Stichjahren 1950, 1960 und 1970, in denen einerseits Strafgerichtsfälle aus dem Kanton Bern und andererseits Strafakten aus Niederösterreich analysiert wurden.[4]
In der vergleichenden Perspektive werden frappante Gemeinsamkeiten ersichtlich: Unabhängig davon, dass in der Schweiz das Schutzalter bei 16 und in Österreich bei 14 Jahren lag, hatte in beiden Ländern der zwölfte Geburtstag – zumindest für Mädchen – eine zentrale Bedeutung für die Untersuchungs- und Gerichtsprozesse.
Die performative Macht von Fotografien
In Bern und in Niederösterreich zeigt sich das gleiche Muster: Die Untersuchungsbehörden legten von kleinen Kindern, die sexuelle Übergriffe erlebt hatten, keine Fotos in den Akten bei. Ebenfalls fehlen Fotografien von adoleszenten, sexualunmündigen Knaben. Hingegen finden sich Fotos von Mädchen, die das zwölfte Lebensjahr bereits überschritten hatten. Diese Bilder wurden in den Akten ergänzt durch Angaben der Größe, des Körpergewichts, der Frisur oder Hinweisen auf die sexuelle Entwicklung.[5]
Die Informationen dienten, wie die Behörden sowohl in Bern als auch in Niederösterreich argumentierten, zur Klärung der Frage, ob die Beschuldigten das Alter der Mädchen hätten wissen können. Der Blick auf den adoleszenten Körper des Mädchens prägte aber auch die Deutungen der Gerichte: Handelte es sich im vorliegenden Fall um eine Form von Gewalt, die außerhalb einer sogenannt „zivilisierten“ Kultur situiert war? Oder doch eher um eine Handlung, die zwar illegitim war, aber kaum abwich von sogenannt normalen Sexualitätspraktiken? Der Entwicklungsstand des Körpers des Mädchens war hier ein Schlüssel zur Deutung des Falles und dem Foto in der Akte kam durchaus performative Macht zu.[6]
Dies verdeutlicht exemplarisch ein Urteil des Obergerichts des Kantons Bern aus dem Jahre 1960. Zum Erscheinungsbild des 15-jährigen Mädchens führte das Gericht aus: „Wie aus der bei den Akten liegenden Fotografie ersichtlich ist, präsentiert sich das Mädchen eindeutig älter, als es ist. Die sinnlichen Lippen, überhaupt der ganze Gesichtsausdruck, aber auch die Hände und die übrigen Erscheinungen erwecken keineswegs den Eindruck eines Kindes.“[7]
Ermessensspielraum vor Gericht: Alter und Geschlecht
Nicht nur in Bern, sondern auch in Niederösterreich hatte die Aussage der Strafbehörden, wonach ein Mädchen „nicht wie ein Kind aussah“, weitreichende Konsequenzen. Gerade in heterosexuellen Beziehungen zwischen sexualunmündigen, adoleszenten Mädchen und jungen Männern drehten Strafgerichte beider Länder die Rolle von „Tätern“ und „Opfern“ zuweilen um: So wurden junge Männer bei Verletzungen des Schutzalters vielfach nur geringfügig sanktioniert. Insbesondere im Zuge der sogenannten „sexuellen Liberalisierung“ zeigten sich die untersuchten Strafgerichte zunehmend weniger gewillt, junge Männer, die sexuelle Beziehungen mit Mädchen unter dem Schutzalter eingegangen waren, zu bestrafen.[9]
Dieser nachsichtigere Umgang mit Formen von Jugendsexualität bezog sich allerdings nicht zwangsläufig auch auf die jungen Mädchen. In der Schweiz wie in Österreich lassen sich vergleichbare Praktiken feststellen: In mehreren Fällen wiesen Behörden die unmündigen Mädchen, die sich auf mehrere sexuelle Kontakte mit jungen Männern eingelassen hatten, in Anstalten ein.[9] Die Normierung von Sexualität war durch spezifische Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit geprägt: Diese eröffneten Mädchen und Jungen im Untersuchungszeitraum weitgehend unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten und Rechtsansprüche.[10]
Fazit: Fokus auf die Wirkungsmacht von Bildern
Die vergleichende Perspektive auf österreichische und schweizerische Strafprozesse verdeutlicht, dass nicht allein die Altersgrenzen von 14 respektive 16 Jahren wegleitend waren, um Fälle von Verletzungen des Schutzalters zu beurteilen. Hatte ein Mädchen das zwölfte Lebensjahr überschritten, veränderte sich der Blick der Behörden: Seine „Schutzwürdigkeit“ stand zur Debatte.
In Strafprozessen zu Verletzungen des Schutzalters sammelten Untersuchungsbehörden eine Vielfalt von Beweismitteln und Informationen. Den Fotografien der Mädchen kam allerdings eine besondere Funktion zu, ermöglichten sie doch, dass alle Personen, die mit der Akte arbeiteten, sich – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Bild des Mädchens machen konnten.
Dieses gemachte Bild zu revidieren, war für die Mädchen schwierig, wie die Befragungen in den Hauptverhandlungen verdeutlichen. Auch wenn die unmündigen Mädchen – die nicht mehr wie „Kinder“ aussahen – sexuelle Gewalt erfahren hatten, hinterfragten die Gerichte vielfach ihren Opferstatus und ihren Anspruch auf erhöhte Schutzbedürftigkeit.[11] In den historischen Untersuchungen zu Sexualität, Gewalt und Adoleszenz gilt es denn nicht nur die Textquellen zu analysieren, sondern auch nach der Bedeutung einer vermeintlichen „Faktizität“ von Bildern zu fragen und ihren Beitrag zur Herstellung spezifischer Machtverhältnisse aufzuzeigen.
Anmerkungen
[1] Sonja Matter, Universal oder different? Sexualität, Kindheit und die internationalen Normierungsbestrebungen zum Heirats- und Schutzalter im Völkerbund der 1920er Jahre, in: Historische Anthropologie, 24. Jg., 2016, Heft 3, S. 313-335.
[2] Gustav Kaniak, Das österreichische Strafgesetz samt den einschlägigen strafrechtlichen Nebengesetzen, 6. Aufl., Wien 1969, 263-264; Natalia Gerodetti, Modernising Sexualities. Towards a Socio-Historical Understanding of Sexualities in the Swiss Nation, Bern 2005.
[3] Dies galt primär für sexuelle Kontakte in heterosexueller Konstellation. Zur Geschichte von Homosexualität und Schutzalter, Roman Birke, Barbara Kraml, Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion: Homosexualitäten zwischen Verfolgung und Normalisierung in Österreich 1971, in: zeitgeschichte 2, März/April 2016, 43. Jg., 85-100; Natalia Gerodetti, Konstruktion von Homosexualität während der Vereinheitlichung des StGBs, in: Claudia Opitz, Brigitte Studer, Jakob Tanner (Hg.), Kriminalisieren – Entkriminalisieren – Normalisieren, Zürich 2006, S. 311-324.
[4] Vgl. laufendes Forschungsprojekt Sonja Matter, The Age of Consent. Sexualität, Recht und die Konstruktion von Adoleszenz (1950-1970).
[5] Vgl. dazu u.a. Landesarchiv Niederösterreich (NÖLA),Vr 495/70; Staatsarchiv des Kantons Bern (StaB), StaB, BB 15.1.1239.
[6] Vgl. dazu, Walter Leimgruber, Einleitung. Akten: Die gesellschaftliche Kraft eines Verwaltungsinstruments, in: Claudia Kaufmann, Walter Leimgruber (Hg.), Was Akten bewirken können. Integrations- und Ausschlussprozesse eines Verwaltungsvorgangs, Zürich 2008, S. 7-17.
[7] StaB, BB 15.1.1239, Urteil II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern, 21.6.1960.
[8] Vgl. dazu u.a., NÖLA, 1325/70; BB 15.1.1247. Zur „sexuellen Liberalisierung“ und deren Ambivalenzen siehe Dagmar Herzog, Die „Sexuelle Revolution“ in Westeuropa und ihre Ambivalenzen, in: Peter-Paul Bänziger, Magdalena Beljan, Franz X. Eder, Pascal Eitler (Hg.), Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015, S. 347-368.
[9] Vgl. dazu NÖLA, Vr 940/60; StaB, BB 15.1.1247.
[10] Siehe dazu Stephen Robertson, Crimes against Children. Sexual Violence and Legal Culture in New York City, 1880-1960, Chapel Hill, London 2005; Mary E. Odem, Delinquent Daughter Protecting and Policing Adolescent Female Sexuality in the United States, 1885-1920, Chapel Hill, London 1995.
[11] Vgl. dazu u.a. NÖLA, Vr 940/60, Vr 95/70.
[…] Strafprozesse zum Schutzalter und die Macht von Bildern; von Sonja Matter (Link) […]
[…] Strafprozesse zum Schutzalter und die Macht von Bildern; von Sonja Matter (Link) […]