Die Sexualwissenschaft erfand in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der ‚weiblichen Homosexuellen‘ eine sexualpathologische Kategorie, die 1909 auch in das deutsche Strafrecht eingeführt zu werden drohte. Welche Reaktionen rief diese Entwicklung in einem homosozialen Feld wie der deutschen Frauenbewegung hervor?
Die Sexualwissenschaft erfand sich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine neue Disziplin, die das ‚Geschlechtsleben‘ der Menschen ergründen wollte. Bereits früh wandte sie sich jenen Varianten von Sexualitäten zu, die als Abweichungen von der normativ gefassten heterosexuellen, monogamen und auf Fortpflanzung ausgerichteten Sexualität konstruiert wurden. Männliche Homosexualität rückte in diesem Zusammenhang rasch in den Fokus, während weibliche Homosexualität vergleichsweise selten eigenständig diskutiert wurde: Frauen wurde generell ein weniger stark vorhandener ‚Geschlechtstrieb‘ zugeschrieben.[10]
Die Werke Albert Molls, Carl Westphals, Richard von Krafft-Ebings oder Magnus Hirschfelds prägten normative Begriffe, Kategorien und Konzepte, die insbesondere um die Jahrhundertwende auch in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen an Relevanz gewannen. 1897 wurde mit dem Wissenschaftlich-Humanitären Komitee (WHK) die erste Homosexuellenorganisation gegründet; ab der Jahrhundertwende kam es im Deutschen Kaiserreich zu gesellschaftlichen Skandalen und Prozessen um die vermeintliche Homosexualität von prominenten Persönlichkeiten. Die Affäre um den Industriellen Friedrich Alfred Krupp (1902) oder die Moltke-Harden-Eulenburg-Prozesse (1906–1908) veranschaulichen deutlich die polarisierende Wirkung dieses Themas in der deutschen Öffentlichkeit.
Weibliche Homosexualität wurde seltener öffentlich thematisiert und erst dann zum Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung, als ein Vorentwurf des überarbeiteten Reichsstrafgesetzbuches von 1909 vorsah, den §175 auf Frauen auszudehnen. Dieser stellte bisher gleichgeschlechtliche Akte zwischen Männern unter Strafe.
Im Folgenden soll gefragt werden, welche Formen des Umgangs Frauenbewegungen entwickelten, um auf diese potentielle Strafverfolgung weiblicher Homosexualität zu reagieren – gerade vor dem Hintergrund, dass viele dieser Aktivistinnen mit Frauen lebten.
Zu zweit leben
Für Frauenbewegungsaktivistinnen war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich eine Lebensgemeinschaft[2] mit einer anderen Frau zu führen, statt eine heterosexuelle Ehe einzugehen. So wuchs, wie Hanna Hacker feststellte, „[g]egen Ende des Jahrhunderts […] die Zahl der akademisch gebildeten und/oder in gehobenen Berufen tätigen Frauen, die zugleich mit Frauen lebten.“[3] Ein Charakteristikum vieler dieser Beziehungen war, dass sie – obwohl sich viele der Frauen im Kontext politischer Arbeit kennenlernten – „über effektive Arbeitsgemeinschaften hinausreichten“[4], die Frauen häufig zusammen wohnten und gemeinsam Reisen unternahmen. Für viele unverheiratete Frauen war es finanziell kaum möglich alleine zu leben – derartige Lebensgemeinschaften wiesen also auch eine ökonomische Komponente auf. Helene Lange und Gertrud Bäumer, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, Käthe Schirmacher und Klara Schleker gehörten für Deutschland zu einigen der ‚prominentesten‘ Beispiele dieses Lebensmodells.
Wie in einer Reihe von Untersuchungen deutlich wurde, ist aus heutiger Perspektive weder der Anteil von Intimität und Sexualität in diesen Beziehungen nachweisbar noch lässt sich nachvollziehen, inwieweit die Beteiligten ihr Handeln überhaupt als ‚sexuell‘ begriffen. Darüber hinaus ist es durchaus problematisch, den genannten Lebensgemeinschaften ex post Begriffe wie ‚homosexuell‘ oder ‚lesbisch‘ zuzuweisen, da sich diese Frauen – bis auf einige wenige Ausnahmen (Johanna Elberskirchen oder Anna Rüling) – selbst nie in dieser Weise bezeichneten.
Obwohl also derartige Lebensgemeinschaften zwischen Frauen eine gängige gelebte soziale Praxis in der Frauenbewegung darstellten, wurden diese nicht innerhalb der Kategorien gelebt, die die zeitgenössische Sexualwissenschaft mit Begriffen wie ‚Konträrsexuelle‘ oder ‚Tribadin‘ zur Verfügung stellte. Diese Kategorien wurden auch von solchen Frauen nicht aufgegriffen, die sich innerhalb von Frauenbewegungen eindeutig als ‚Paar‘ inszenierten, wie Helene Lange und Gertrud Bäumer. Während sich die um 1900 entwickelnde lesbische Subkultur eben diese Begriffe aneignete und selbstbewusst mit ihnen operierte, versuchten sich die in Lebensgemeinschaften mit Frauen lebenden Frauenbewegungsaktivistinnen der begrifflichen Durchdringung ihrer Lebensverhältnisse und der Typisierung ihrer körperlich-sexuellen Bedürfnisse zu entziehen – wie Margit Göttert oder Hacker festgehalten haben.[5]
Dieses distanzierte Verhältnis zu den Konzepten der Sexualwissenschaft veränderte sich nun mit dem Bekanntwerden des neuen Strafrechtsentwurfs. Wie hier nur entlang einiger Schlaglichter angedeutet werden kann, wurde es in Frauenbewegungskontexten gerade durch die möglich werdende Strafverfolgung weiblicher Homosexualität dringlicher, sich zu diesem sexualwissenschaftlichen Identifikationsangebot zu verhalten. Die mögliche Einführung der sexualpathologischen Kategorie weiblicher Homosexualität in die Rechtssphäre lässt sich demnach als Katalysator beschreiben, der ein Nachdenken über ein bisher zu ignorierendes Thema provozierte.
Wer spricht, wer schweigt?
Dass Frauenbewegungen sich mit dem Thema Sexualität generell auseinandersetzten, lässt sich anhand einer Reihe von Publikationen zeigen: beispielhaft sind drei zwischen 1905 und 1911 erschienene Sammelbände,[6] die mit unterschiedlicher Gewichtung Positionen namhafter Frauenrechtlerinnen zu Ehe, Doppelmoral, ‚freier Liebe‘ und sexualreformerischen Ideen versammelten. Doch selbst in diesen Sittlichkeit und Sexualität fokussierenden Texten fällt eine offensichtliche Distanz zum Thema Homosexualität auf.
Diese Distanz wird in der Forschung hauptsächlich als politisch-strategischer Versuch, als ‚defensive Strategie‘ verstanden, eine erneute Reduktion der Frau auf ein Geschlechtswesen oder die sexualwissenschaftliche Kategorie der ‚weiblichen Homosexuellen‘ zu verhindern.[7] Auch der Versuch, das Ansehen der Frauenbewegung nicht durch eine Verbindung mit dem Thema Homosexualität in der Öffentlichkeit zu gefährden, wird ins Treffen geführt. Zugleich lohnt es sich, einen differenzierten Blick auf das vermeintliche Schweigen der Frauenbewegung zu dieser Thematik zu werfen und sich den in unterschiedlichen Kontexten durchaus auffindbaren Positionierungen zu widmen.
Innerhalb des radikalen Spektrums lässt sich zunächst der 1904/05 gegründete Bund für Mutterschutz und Sexualreform (unter der Führung Helene Stöckers) nennen, der dieses Thema am explizitesten im Vereinsorgan Die neue Generation aufgriff, der mit dem WHK kooperierte und den homosexuellen Sexualreformern damit eine Plattform in der Frauenbewegungsöffentlichkeit gab. Dagegen ist von Seiten des Verbands fortschrittlicher Frauenvereine (VFF) – deren prominenteste Vertreterinnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann wie erwähnt in einer Beziehung zusammenlebten – keine Aussage zur Ausdehnung des §175 auf Frauen überliefert. Neben positiven Bezugnahmen und der Verweigerung einer öffentlichen Positionierung finden sich auch abwehrende Äußerungen innerhalb der Frauenbewegung. Als Anna Rühling etwa 1904 in einem Vortrag postulierte, viele Frauenrechtlerinnen seien homosexuell, würden sich aber nicht öffentlich dazu bekennen, um der Frauenbewegung nicht zu schaden,[8] wurde dies im Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine (BDF) als unerhört zurückgewiesen.
In eben diesem Centralblatt, zugleich Vereinsorgan der Dachorganisation des ‚gemäßigten‘ Flügels, lässt sich zunächst feststellen, dass über die Frage der Ausdehnung des §175 tatsächlich hauptsächlich geschwiegen wurde.[9] So erschien dazu einzig ein Artikel der Vorsitzenden der Rechtskommission des BDF, Camilla Jellinek. Darin vertrat sie die Auffassung, es entspräche dem von der Frauenbewegung vertretenen Gleichheitsprinzip, wenn auch Frauen nach §175 bestraft werden könnten.[10] Dass anschließend keine Aussagen zum §175 im Centralblatt erschienen, es also zu keinen weiteren Kommentaren oder Erwiderungen kam, ließe sich vordergründig als eindeutige Positionierung des Blattes verstehen. Die kurze Zeit später nachweisbaren brieflichen Auseinandersetzungen über das Thema zeigen allerdings ein anderes Bild:
Nachdem die Aktivistin Elsbeth Krukenberg einen Artikel im Centralblatt eingereicht hatte, der wohl wesentlich liberalere Positionen vertrat, holte die BDF-Vorsitzende Gertrud Bäumer briefliche Stellungnahmen des Bundesvorstandes sowie der für das Centralblatt eingesetzten Kommission ein. Die innerhalb weniger Tage verfassten brieflichen Antworten zeigen einerseits, dass sich ein Großteil der Frauen gegen eine Ausdehnung aussprach und andererseits, dass ein lebhaftes Interesse an dieser Frage bestand und die Notwendigkeit einer Positionierung erkannt wurde. Es wurde zwar letztlich entschieden, weder Krukenbergs noch andere Artikel zu dem Thema im Centralblatt zu publizieren. Nichtsdestotrotz wird sichtbar, dass diese Entscheidung nicht leichtfertig getroffen wurde und ihr jedenfalls eine Ausverhandlung vorausging, wenn diese auch ‚intern‘, also in Protokollen und Briefen, geführt wurde.
Resümee
Wie sich zeigen ließ, veränderte die mögliche Ausdehnung des §175 auf Frauen das Verhältnis deutscher Frauenbewegungen zur sexualwissenschaftlichen Kategorie weiblicher Homosexualität. Die auf den ersten Blick distanzierte Haltung von Frauenbewegungsakteurinnen zu diesem Thema ist durchaus differenziert zu sehen. Zum einen muss nach verschiedenen Öffentlichkeiten gefragt werden, in denen weibliche Homosexualität verhandelt wurde: So sind nicht nur publizierte Texte, sondern z.B. auch Protokolle und Korrespondenzen, die im Rahmen von Vereins- oder Redaktionssitzungen entstanden, einzubeziehen. Zum anderen zeigt sich, dass ein breites Spektrum an Positionierungen (von Kooperationen mit Homosexuellenorganisationen bis zu eindeutigen Abwehrhaltungen) in Frauenbewegungen existierte, das es ausführlich zu analysieren gilt.
Soeben erschienen: Marginalisierte Erinnerung. Auseinandersetzungen um homosexuelle NS-Opfer im Nachkriegsösterreich, in: zeitgeschichte, Nr. 2/2016, 101-115.
Anmerkungen
[1] Siehe etwa Richard von Krafft-Ebing, Neue Studien auf dem Gebiete der Homosexualität, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 3 (1901), 21.
[2] Mit dem Begriff ‚Lebensgemeinschaft‘ wird hier zunächst ein möglichst neutraler Begriff gewählt, der einschließt, dass die Frauen zusammen wohnten und sich in ihrem Alltag stark aufeinander bezogen. Impliziert werden soll nicht, welche Art von Gefühlen die Frauen füreinander hegten oder ob Formen von Sexualität eine Rolle in diesen Beziehungen spielten.
[3] Hanna Hacker, Frauen* und Freund_innen. Lesarten „weiblicher Homosexualität“. Österreich, 1870–1938, Wien 2015, 183.
[4] Angelika Schaser, Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln u.a. 2010, 85.
[5] Vgl. Margit Göttert, Macht und Eros. Frauenbeziehungen und weibliche Kultur um 1900 – eine neue Perspektive auf Helene Lange und Gertrud Bäumer, Königstein/Taunus 2000, 223; Hacker, 153.
[6] Rosika Schwimmer (Hg.), Ehe-Ideale und Ideal-Ehen. Äusserungen moderner Frauen, auf Grund einer Rundfrage, Berlin 1905; Anna Pappritz/Gertrud Bäumer/Alice Salomon/u.a., Frauenbewegung und Sexualethik. Beiträge zur modernen Ehekritik, Heilbronn 1909; Hedwig Dohm (Hg.), Ehe? Zur Reform der sexuellen Moral, Berlin 1911.
[7] Vgl. Göttert, 223.
[8] Vgl. Anna Rühling, Welches Interesse hat die Frauenbewegung an der Lösung des homosexuellen Problems? Rede von Anna Rühling, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 7 (1905), 131–151.
[9] Für den gesamten Abschnitt siehe Göttert, 254–263.
[10] Vgl. Camilla Jellinek, Der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch. Vom Standpunkt der Frauen aus betrachtet, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine, 11 (1909/10), 21-61.