Orgasmus dank Sozialismus?

Aufklärung über den weiblichen Orgasmus – nicht nur auf die ,richtigen‘ Worte, sondern auch auf Anschaulichkeit wurde Wert gelegt. Quelle: Siegfried Schnabl: Mann und Frau intim: Fragen des gesunden und des gestörten Geschlechtslebens, Berlin 198315, S. 81.

Aufklärung über den weiblichen Orgasmus. Nicht nur auf die ,richtigen‘ Worte, sondern auch auf Anschaulichkeit wurde Wert gelegt. Grafik aus: Siegfried Schnabl: Mann und Frau intim, 1983, S. 81.

Sind Orgasmen nicht immer und überall gleich – ob jetzt oder früher, ob im Kapitalismus oder im Sozialismus? Nein! So hätte die Antwort der DDR-Führung gelautet. Wer wissen will, woher diese Antwort kam und warum dabei vor allem der weibliche Orgasmus eine Rolle spielte, sollte jetzt weiterlesen.

Unsere Sexualität erscheint uns auf den ersten Blick als Privatsache. Wir begreifen sie als Bereich unseres Lebens, in dem so gut wie ausschließlich wir und unsere PartnerInnen darüber entscheiden, was wir machen und wie wir uns dabei fühlen. Die Fälle, in denen der Staat eingreift, werden als Einzelfälle wahrgenommen (z.B. das strafrechtliche Vorgehen gegen sexuellen Missbrauch).

Wenn wir uns aber ein wenig intensiver damit auseinandersetzen, wie ,privat‘ unser Sexualleben tatsächlich ist, erkennen wir, dass staatliche Vorgaben und Interessen hier in vielerlei Hinsicht präsent und einflussreich sind. Besonders stark ist der staatliche Einfluss spürbar, wenn es um den reproduktiven Aspekt von Sexualität geht.

Sexualität und Reproduktion

Die Tatsache, dass der Geschlechtsverkehr der ,natürliche‘ Weg der menschlichen Fortpflanzung ist – die reproduktive Medizin eröffnet mittlerweile freilich auch ganz andere Möglichkeiten – führt dazu, dass auf bestimmte Fragen vor allem der Staat die ,richtige‘ Antwort gibt: Welche Mittel der Schwangerschaftsverhütung gibt es und darf es geben? Unter welchen Umständen kann eine ungeplante Schwangerschaft abgebrochen werden? Welche ,künstlichen‘ Wege der Fortpflanzung können beschritten werden, wenn der ,natürliche‘ Weg nicht gangbar ist (sei es aus medizinischen Gründen oder aus Gründen der sexuellen Orientierung)?

Wie lang die Liste mit solchen Fragen ist, welche Fragen als relevant erachtet werden und wie die Antworten darauf ausfallen, ist von Land zu Land, von historischer Epoche zu historischer Epoche und von politischem System zu politischem System verschieden. Weniger häufig wird auf einer solchen Liste wohl die Frage „Wie wichtig ist der weibliche Orgasmus?“ auftauchen.

Reproduktive Krise

In der DDR der 1970er und 1980er Jahre war der weibliche Orgasmus aber tatsächlich ein Thema, das – zumindest in einem sehr kleinen und sehr zweckgerichteten Ausmaß – auf staatliches Interesse traf, und davon ausgehend auch in der Wissenschaft erörtert wurde. Hinter dem Interesse, das man in der späten DDR für den weiblichen Orgasmus hegte, standen – man ahnt es schon – reproduktive Zielsetzungen.

Die Problematik war, dass sich das sozialistische Regime mit stetiger Abwanderung in den Westen konfrontiert sah, ein Phänomen, das auch durch den Mauerbau nicht vollständig gestoppt werden konnte. Hinzu kamen, wie auch in den anderen sozialistischen und marktwirtschaftlichen Industriegesellschaften Europas, sinkende Geburtenzahlen.

Diese beiden Phänomene waren für die DDR vor allem aus ökonomischer Sicht problematisch, da die dortige Planwirtschaft nach der Devise „Je mehr personelles Input, desto mehr produktives Output“ funktionierte (oder besser gesagt nicht funktionierte). Aus Sicht des sozialistischen Regimes war es deshalb wichtig, den Abwärtstrend bei den Geburten einzudämmen.

Mehr Orgasmen, mehr Kinder?

Neben einer Vielzahl familienpolitischer Maßnahmen (z.B. Ausbau der Kinderbetreuung und Erhöhung des Kindergelds) begann man auch, sich Gedanken über die ,tieferliegenden‘ Ursachen der reproduktiven Krise zu machen. Einer dieser Gedankengänge endete beispielsweise in einem stärkeren staatlichen Interesse an der Ehe- und Sexualberatung. Ein anderer dieser Gedankengänge endete beim weiblichen Orgasmus.

Vereinfacht lautete die ,Rechnung‘: Paare sollen häufiger Sex haben, damit sie mehr Kinder bekommen. Damit Paare häufiger Sex haben, ist es wichtig, dass nicht nur der Mann, sondern auch die Frau zum Orgasmus kommt. Oder, ausgedrückt mit den Worten des im Jahr 1965 gegründeten Zentralinstituts für Jugendforschung, das dem staatlichen Amt für Jugendfragen unterstand:

„Vom Erleben oder auch vom Ausbleiben des Orgasmus hängt es stark ab, ob eine Frau zum Geschlechtsverkehr ,innerlich‘ bereit ist oder nicht oder ob sie nur Bereitschaft ‚heuchelt‘. Häufiges Ausbleiben des Orgasmus steht meist im Zusammenhang mit Aversionen bzw. dem Versuch, dem GV auszuweichen.“[2]

Im Umkehrschluss musste die Häufigkeit weiblicher Orgasmen also erhöht werden, um im selben Zuge auch die Koitusfrequenz und damit letzten Endes die Geburtenzahlen zu steigern.

Die orgastische (Un-)Fähigkeit der Frau

Dem entgegen stand jedoch, auch das war eine Feststellung des Zentralinstituts für Jugendforschung, die „unvollkommene orgastische Fähigkeit der Frau“[2]. Im Gegensatz zum männlichen Orgasmus sei der weibliche sexuelle Höhepunkt „unsicher“, „störanfällig“ und weise viele „Besonderheiten“ auf. Er sei mit einer „Lernleistung verbunden“, die nicht nur von der Frau selbst, sondern auch von ihren männlichen Geschlechtspartner zu erbringen sei.[3]

Deshalb betrachtete es das Zentralinstitut für Jugendforschung als erstrebenswert, die „Unkenntnis von Männern über psycho-physiologische Abläufe bei Frauen vor und während des Geschlechtsaktes“ zu beheben.[4] Für das partnerschaftliche Erlernen des weiblichen Orgasmus plädierte man aber nicht nur im Rahmen wissenschaftlicher Studien, sondern auch in allgemein an die DDR-BürgerInnen gerichteter Fach- und Ratgeberliteratur.

Erstmalig wurde „Mann und Frau intim“ 1969 veröffentlicht. Bis zum Jahr 1990 folgten 17 weitere, unveränderte Auflagen.

Erstmalig wurde „Mann und Frau intim“ 1969 veröffentlicht. Bis zum Jahr 1990 folgten 17 weitere, unveränderte Auflagen.

In Siegfrid Schnabls Aufklärungsbestseller „Mann und Frau intim“ war ein ganzes Kapitel dem weiblichen Orgasmus, inklusive Unterscheidung in klitorale und vaginale „Reaktion“, gewidmet.[5] Ähnliche Inhalte fand man auch im vielfach aufgelegten Ratgeber „Unsere Ehe“, in dem der weibliche sexuelle Höhepunkt in Kapiteln wie „Welche Wege führen zur beglückenden Vereinigung?“ oder „Abwechslungen beim Liebesakt?“ behandelt wurde.[6]

Orgasmus dank Sozialismus!

Die Tatsache, dass in der DDR relativ offen und breitenwirksam über den weiblichen Orgasmus geschrieben wurde, war nicht nur einer mit Nachdruck und besonderen ,Kreativität‘ betriebenen Geburtenförderungspolitik geschuldet. Ein zusätzlicher Faktor, der das Interesse am weiblichen Orgasmus befeuerte, ist in der sozialistischen Ideologie zu suchen.

Per definitionem waren Frauen und Männer in einer sozialistischen Gesellschaft zur Gänze gleichgestellt. Die Realität in der DDR sah allerdings anders aus, das zeigte sich sowohl in der Politik (nur zwei Ministerinnen in 40 Jahren Bestehenszeit), als auch im Arbeitsleben (Stichworte ,gender wage gap‘ und ,gläserne Decke‘) und im ,Privaten‘ (trotz fast flächendeckender Vollzeiterwerbstätigkeit erledigten Frauen einen Großteil der Hausarbeit).

Dem politischen Leitbild nach sollte die Gleichstellung auch das Sexualleben betreffen. So betonte der renommierte Sexualmediziner Karl-Heinz Mehlan, dass in der DDR „auch die Frau ein Recht auf sexuelle Beglückung, d.h. auf den Orgasmus“ habe.[7] Und dieses Recht setzte die DDR-Frau – wie sollte es anders sein – auch in die Tat um.

Zu diesem Ergebnis kam zumindest eine Studie des Zentralinstituts für Jugendforschung, in der festgestellt wurde, dass junge Frauen in der DDR immer häufiger Orgasmen erlebten. Dies wiederum wurde als Beleg dafür gewertet, dass junge, im Sozialismus sozialisierte Frauen ihre Sexualität hemmungs- und angstfreier ausleben konnten als noch im bürgerlichen Zeitalter sozialisierte ältere Frauen.[8]

Orgasmus dank Sozialismus?

Ein Jubelruf á la ,Orgasmus dank Sozialismus!‘ ist aus heutiger Sicht jedoch ganz sicher nicht angebracht. Im Gegenteil: Interviews, die in den 1970er Jahren mit Frauen in der DDR geführt wurden, verweisen darauf, dass der Sozialismus und die damit einhergehende Doppelbelastung der Frau durch Erwerbs- und Hausarbeit einer erfüllten weiblichen Sexualität eher abträglich waren.

Befragt nach ihrem Sexualleben, beklagte eine interviewte Frau den „Leistungsdrill“, den sie am Arbeitsplatz und zu Hause ausgesetzt sei und der ihr „zu wenig Zeit und Kraft noch außerhalb des Berufs“ lasse.[9] Dies ist eine von vielen, in ihrer Differenziertheit heute nur noch schwer greifbaren weiblichen Stimmen, die ein klares Gegengewicht zum staatlichen und wissenschaftlichen Diskurs über den weiblichen Orgasmus bilden.

Schwer greifbar deshalb, weil Interviews wie das hier zitierte – von Bronnen und Henny noch zu DDR-Zeiten geführte – rar sind. Nach der Wende aufgezeichnete Interviews stünden bzw. stehen jedoch stark unter dem Eindruck eines seit 26 Jahren wiedervereinigten Deutschlands, in dem der Blick auf die ,sexuelle Vergangenheit‘ stets auch an aktuelle politische Praxen und Sexualitätsdiskurse gekoppelt ist.

Der weibliche Orgasmus: unsicher und vom männlichen Orgasmus abhängig.

Der weibliche Orgasmus: unsicher und vom männlichen Orgasmus abhängig. Grafik aus: Siegfried Schnabl: Mann und Frau intim, 1983, S. 96.

Frauen und ,ihr‘ Orgasmus?

Jedenfalls verweisen die in diesem Beitrag zitierten Quellen darauf, dass der in der DDR geführte Diskurs über den weiblichen Orgasmus kein emanzipatorischer war. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Erstens in Bezug auf die enge Verquickung des Diskurses mit staatlich-ökonomischen Interessen. Zweitens in Bezug auf die Tatsache, dass dieser Diskurs in der Regel von Männern über Frauen geführt wurde. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass dadurch das weibliche Sexualleben nicht positiv beeinflusste wurde – vermutlich aber auch nicht negativ.

Herauslesen lässt sich die Kluft zwischen der staatlichen ,Orgasmusförderung‘ und dem von Doppelbelastung und hierarchischen Geschlechterverhältnissen geprägten Lebensalltag der DDR-Bürgerinnen sogar aus den Schriften des Zentralinstituts. Die in einer Intervallstudie befragten Ehefrauen kamen nach dem ersten Ehejahr jedenfalls nicht häufiger zum Orgasmus als vorher.[10] Dies kann so interpretiert werden, dass der ,von oben‘ verordnete Lernprozess zumindest bei den befragten Ehepaaren nicht stattfand.

Orgasmus dank Kapitalismus?

Generell kennzeichnend für die hegemonial-männliche, von der weiblichen Lebensrealität weitgehend entkoppelten Perspektive auf den Orgasmus war, dass der männliche Orgasmus als Norm und der weibliche Orgasmus als Abweichung von der Norm dargestellt wurde. Außerdem wurde der Orgasmus zum Dreh- und Angelpunkt der sexuellen Zufriedenheit von Frauen erklärt, ohne diese Vorannahme zu hinterfragen.

Es wäre jedoch falsch, hegemonial-männliche Diskurse über weibliche Sexualität als Phänomen zu betrachten, das es ausschließlich in einer sozialistischen Diktatur wie der DDR geben kann. Dafür kennen wir dieses Phänomen in unserer kapitalistisch-demokratischen Gegenwart nur zu gut.

Fazit: Als ,Orgasmenbescherer‘ konnte und kann frau den Sozialismus bestimmt nicht bezeichnen. Ob dieses Prädikat im Gegenzug auf den Kapitalismus zutrifft und ob wir überhaupt wollen, dass es zutrifft? Auch daran haben wohl die meisten von uns ihre Zweifel.

Eva Schäffler

Anmerkungen

[1] Zwischenbericht: Hauptergebnisse der Intervallstudie: Zur Entwicklung der Lebensgestaltung junger Ehen, in: Bundesarchiv, DC 4 515, Amt für Jugendfragen, Zentralinstitut für Jugendforschung, Dezember 1981, S. 27.

[2] Scheidung junger Ehen: Motive – Ursachen – Folgerungen. Eine Analyse auf der Grundlage von gerichtlichen Scheidungsakten, in: Bundesarchiv, DC 4 518, Amt für Jugendfragen, Zentralinstitut für Jugendforschung, 1983, S. 10.

[3] Zwischenbericht: Hauptergebnisse der Intervallstudie (wie Anm. 1), S. 15.

[4] Scheidung junger Ehen: Motive – Ursachen – Folgerungen (wie Anm. 2.), S. 11.

[5] Siegfried Schnabl: Mann und Frau intim: Fragen des gesunden und des gestörten Geschlechtslebens, Berlin 1983.

[6] Wolfgang Polte: Unsere Ehe, Leipzig 1973.

[7] Arbeitsmanuskript von Karl-Heinz Mehlan: „Familienplanung im Sozialismus“, in: BArch, DQ 1 4112, Ministerium für Gesundheitswesen, Internationales Seminar zum Thema „Die Familienplanung im System des Gesundheitsschutzes sozialistischer Länder“ in Rostock vom 5. bis 8. Oktober 1971, S. 9.

[8]Zwischenbericht: Hauptergebnisse der Intervallstudie (wie Anm. 1), S. 16.

[9] Barbara Bronnen, Franz Henny: Liebe, Ehe, Sexualität in der DDR. Interviews u. Dokumente, München 1975, S. 11.

[10] Zwischenbericht: Hauptergebnisse der Intervallstudie (wie Anm. 1), S. 15.

By |2018-10-18T18:11:20+01:007. Dezember 2016|ForschungsErgebnisse|2 Comments

Eva Schäffler hat Geschichte, European Studies und Bohemistik studiert. Sie forscht zur Geschlechtergeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere zur Phase des Spät- und Postsozialismus in der DDR und in Ostdeutschland, aber auch in der Tschechoslowakei und in Tschechien. Seit dem Abschluss ihrer Promotion ist Eva Schäffler bei einer Euregio im bayerisch-tschechischen Grenzgebiet tätig. Die Finger ganz von der Wissenschaft lassen kann und will sie aber nicht.

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