Nach eigenem Gutdünken

Nicht ob, sondern dass Frauen abtreiben: Das ist der Ausgangspunkt von Maria Leitners Reportagen-Serie Wo gibt es Hilfe? Opfer und Schmarotzer um den §218. Hierin berichtet Leitner vom Geschäft mit der Abtreibung in der Weimarer Republik und interveniert in die allgegenwärtige Debatte um den §218.

Maria Leitner, Journalistin und Schriftstellerin
Maria Leitner (1892–1942). Quelle: Wikimedia commons.

Frauen treiben ab. Das haben sie immer getan und das werden sie solange tun, wie es ungewollte Schwangerschaften gibt. Ob aus Angst, aus Not oder weil sie kein (weiteres) Kind wollen: Frauen treiben ab und kein Gesetz der Welt hat jemals etwas daran geändert. Unter welchen Umständen Frauen eine ungewünschte Schwangerschaft beenden, darauf hat ein Gesetz allerdings maßgeblichen Einfluss.

Von dieser Haltung wird Maria Leitners (1892–1942) Reportagen-Serie Wo gibt es Hilfe? Opfer und Schmarotzer um den §218[1] getragen. Veröffentlicht vom 19. bis zum 29. April 1931 in der Volks-Zeitung für das Vogtland, berichtet Leitner hier vom blühenden Gewerbe rund um die Abtreibung. Denn auch wenn, oder gerade weil Schwangerschaftsabbruch in der Weimarer Republik laut §218 des Strafgesetzbuches mit Gefängnisstrafe geahndet wurde,[2] war das Geschäft mit der ‚diskreten Hilfe‘ ausgesprochen lukrativ.

Notwendige Übel

Maria Leitner hatte sich in den 1920er und 1930er Jahren einen Namen als Schriftstellerin und Journalistin gemacht. Hauptsächlich publizierte sie in den Zeitschriften des liberalen Ullstein-Verlags, aber auch in kommunistischen Tageszeitungen. Dabei griff Leitner immer wieder auf Themen und Motive der Massenkultur zurück, z.B. die amerikanischen Lebensverhältnisse oder weibliche Angestellte, die sie für eine progressive Politik aneignete.[3]

Käthe Kollwitz, Beim Arzt (1908/1909)
Für Arbeiterinnen war (eine erneute) Schwangerschaft meist kein Grund zur Freude. Hier dargestellt von Käthe Kollwitz: „Beim Arzt“ (1908/1909). Quelle: ©Käthe Kollwitz Museum Köln.

In Wo gibt es Hilfe? hat Leitner erkundet, wie Frauen in Berlin einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen konnten. Dabei wird schnell klar: Je voller der Geldbeutel, umso größer das Repertoire an Möglichkeiten. Während zahlungskräftigen Kundinnen komfortable Sanatorien zur Verfügung standen, mussten die weniger gut Verdienenden auf die Dienste von ‚ehemaligen Hebammen‘ vertrauen. Für 135 bis 150 Mark – der ungefähre Monatslohn einer einfachen Angestellten – nahmen sie Frauen bei sich auf und vermittelten sie an (meist selbsterklärte) ‚Ärzte‘.

War auch dieser Service nicht erschwinglich, waren Frauen auf fragwürdige Beratungsstellen angewiesen oder auf diejenigen, die als „reinste ‚Autodidakten‘“ und „auf die primitivste Weise selbst Eingriffe“[4] vornahmen. Die preisgünstigste Variante stellten die sogenannten ‚hygienischen Artikel‘ dar, also Damen-Dragees und Tees, aber auch Zyankali oder mit Arsenlösung getränkte Tampons. Falsch dosiert bereiteten diese Mittelchen „unter schrecklichen Qualen allen Peinlichkeiten des Lebens ein Ende“.[5]

So gefährlich diese Abtreibungs-Dienstleistungen für Frauen auch gewesen sein mögen, für Leitner stellten sie doch ein „notwendiges Übel“[6] dar. Und zwar so lange, wie Ärzt:innen verhaftet wurden, die sichere Abtreibungen durchführten. Hier weist Leitner auf die Doppelbödigkeit bei der Umsetzung des §218 hin. Apotheken konnten ihre giftigen ‚hygienischen Artikel‘ mit Verweis auf ihre hohe Wirksamkeit nämlich offen bewerben.

Letzteres war für Leitner, als würde die Polizei Werbung für die Qualität von Einbrecherwerkzeug machen. „Allerdings ist ja wahr“, fügt sie pointiert an, „daß Einbrecherwerkzeuge gegen das Privateigentum sich richten können und somit unvergleichlich radikaler verfolgt werden müssen als Gifte, die nur Frauenleben schädigen“.[7]

Die Obsession mit der Abtreibung

Heutige Leser:innen mögen von der Radikalität (im besten Sinne) von Leitners Beiträgen überrascht sein. Sie lassen sich jedoch nahtlos in die in den 1920er und frühen 1930er Jahren geführten Legalisierungsdebatten einreihen. Auch in der Volks-Zeitung für das Vogtland, eine Regionalzeitung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), wurde zum Zeitpunkt des Erscheinens von Leitners Reportagen massiv gegen den §218 kampagnisiert.

Insgesamt hatte das Thema Abtreibung in der Weimarer Republik eine derart große öffentliche Präsenz, dass die Historikerin Cornelie Usborne von einer „discursive obsession [] of the time“ spricht.[8] Der §218 war zentraler Gegenstand politischer Kampagnen, insbesondere der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Darüber hinaus war Abtreibung aber auch ein beliebtes Sujet im kulturellen Bereich.

Kreuzzug des Weibes gegen das Abtreibungsverbot (Filmplakat)
Filmplakat zum Stummfilm Kreuzzug des Weibes (1926), der die Folgen des Abtreibungsverbots thematisiert und mehrfach Jugendverbot erhielt. Quelle: Wikimedia Commons.

Die kulturelle Repräsentation von Abtreibung

Beginnend beim zeitgenössisch wohl aufsehenerregendsten Stück Cyankali (1929), verfasst vom Arzt und KPD-Funktionär Friedrich Wolf, über Arthur Schnitzlers Therese. Chronik eines Frauenlebens (1928) bis zu Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns (1931). Ob im Theater, im Film oder im Roman: Überall wurden weibliche Charaktere ungewollt schwanger, trieben ab und starben an Abbrüchen.[9]

Trotz seiner Allgegenwart wurde dem Thema Abtreibung in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Zwischenkriegszeit bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.[10] Hier scheint die Geschichtswissenschaft die Literatur ernster zu nehmen. So hat Usborne Romane, Filme und Theaterstücke untersucht und dominante Repräsentationsformen von Abtreibung herausgearbeitet. Wie sich anhand von Leitners Reportagen zeigen lässt, waren diese auch über den kulturellen Bereich hinaus produktiv.

Leitner beteuert zwar, „ganz ohne Übertreibung“ nur zu berichten, „was ich selbst gesehen habe“.[11] Doch greift sie maßgeblich auf etablierte Darstellungsweisen und Motive zurück. Allem voran wären hier die ‚früheren Hebammen‘ zu nennen und die Frauen, die ohne medizinische Vorbildung Abtreibungen durchführten. Als gewissenlose Schreckgespenster geisterten diese ‚weisen Frauen‘ durch zeitgenössische Romane und Theaterstücke. Ebenso werden sie bei Leitner als geldgierige Kurpfuscherinnen dargestellt, die unmöglich einer Frau helfen könnten – oder das auch nur wollten.

Auch die Dramatisierung von Abtreibung in den Reportage-Beiträgen ist ganz auf der Höhe der Zeit. So hebt Leitner den „süßliche[n] Geruch von Blut und totem Fleisch“[12] bei der Ankunft bei einer Hebamme hervor, die in der Nähe von Schlachthöfen wohnte. Bei einer anderen, so erzählt sie, lag eine Frau im Nebenzimmer, die „sehr blass“ war, „[s]ie stöhnt sehr leise.“[13] Die Leser:innen von Vicky Baums Erfolgsroman stud. chem. Helene Willfüer (1928) kannten diese Szene gut und konnten das Stöhnen leicht mit dem herannahenden Tod assoziieren.[14]

Solche Schilderungen verfehlen ihre Wirkung nicht – heute ebenso wenig wie bei den Leser:innen der Weimarer Republik. Ihre Fähigkeit, Affekte zu mobilisieren, machen sie für die politische Agitation ebenso attraktiv wie für die Kulturindustrie. So wurde schon zeitgenössisch bemerkt, dass eine möglichst dramatische Abtreibung im Film vor allem eines bringt: volle Kinokassen.[15]

Mögen diese Bilder bei Leitner auch im Dienst der politischen Mobilisierung aufgerufen werden, die Erfahrung aller Frauen bilden sie nicht ab. Ein Abbruch konnte natürlich ein physisch und emotional dramatisches Erlebnis sein. Zu einem Zeitpunkt, als Verhütungsmittel für einen Großteil der Bevölkerung nicht erschwinglich waren, war Abtreibung aber auch schlicht ein probates Mittel der Familienplanung.[16]

Protest Zweite Welle Frauenbewegung
Ein langer Weg: Frauen in Frankfurt am Main mussten 1974 noch immer für das Recht auf Selbstbestimmung demonstrieren. Quelle: Wikimedia Commons

Intervention: Selbstbestimmung und Wahlfreiheit

Was die Darstellung von Abtreibung anbelangt, sind Leitners Beiträge weitestgehend konventionell. An entscheidenden Punkten interveniert sie aber auch in die bestehenden Debatten. Mit ihrem Gespür für Außenseiter:innen lenkt sie zum einen den Blick auf wenig beachtete Figuren. Viel Aufmerksamkeit widmet sie beispielsweise den Dienstmädchen bei (‚früheren‘) Hebammen und, oftmals in Personalunion, den „Dienstmädchen, die Mütter werden“.[17] Leitner zeigt, in welch erdrückende Ausbeutungsverhältnisse die jungen, meist unverheirateten Frauen durch eine Schwangerschaft gezwungen wurden.

Zum anderen verweigert sich Leitner der gängigen Argumentation politischer Kampagnen. Besonders für die KPD stellte der Kampf gegen den §218 eine soziale Notwendigkeit dar, bedingt durch die desolaten Lebensverhältnisse des Proletariats.[18] „[D]ie Frauen [wünschen] auch jetzt noch sich Kinder […], gesunde Kinder“,[19] proklamiert eine Figur in Cyankali paradigmatisch. „Aber ist es nicht auch besser, Herr Doktor, die Frauen […] jetzt zu schonen, gerade damit sie später unter besseren Verhältnissen kräftige und fröhliche Kinder zu Welt bringen können?“[20]

Abtreibung war dieser Logik entsprechend ein notwendiges Übel der herrschenden Verhältnisse. Unbestritten blieb die Unterstellung, dass Frauen Mütter sein wollen – wenn sie nur könnten. Leitner dagegen erzählt von Dienstmädchen, die sich aller desolaten Umstände zum Trotz für Mutterschaft entscheiden. Auch treiben die Frauen in ihren Reportagen nicht ab, weil sie sich keine Kinder leisten können, sondern ihnen bleibt „aus Geldmangel nichts übrig […], als ein Kind zur Welt zu bringen“.[21]

Dergestalt auf den Kopf gestellt, führt Leitner die Argumente jeder noch so gut gemeinten politischen Kampagne ad absurdum. Gleichzeitig tritt der heterogene Umgang von Frauen mit (gewollter oder ungewollter) Schwangerschaft in den Vordergrund. Mutterschaft oder nicht – das ist in den Beiträgen keine Frage der Verhältnisse, sondern der Wahlfreiheit. An einer Stelle umschreibt Leitner Abtreibung auch damit, dass Frauen „nach eigene[m] Gutdünken über ihren Körper verfügen[22] und widerspricht so fundamental den vorherrschenden Legitimationsfiguren.

Diese Haltung ist es, die die Radikalität von Leitners Reportagen-Serie bedingt. In der Weimarer Republik wurde viel gegen den §218 angeschrieben. Doch Leitners Engagement basiert auf dem Primat weiblicher Selbstbestimmung. Sie beleuchtet das Thema damit aus einer Perspektive, die sich überhaupt erst im Zuge der Zweiten Frauenbewegung in den 1970er Jahren durchgesetzt hat – zumindest unter pro-choice-Aktivist:innen. Denn selbstverständlich ist es auch 90 Jahre nach Leitners Reportagen nicht, dass Frauen nach eigenem Gutdünken über ihren Körper verfügen können. Das aus heutiger Sicht erschütterndste an den Beiträgen sind denn auch weniger die dramatischen Darstellungen. Vielmehr ist es ihre Aktualität.[23]

Stephanie Marx

Anmerkungen

[1] Leitner, Maria: „Wo gibt es Hilfe? Opfer und Schmarotzer um den §218“. In: Dies.: Mädchen mit drei Namen. Reportagen aus Deutschland und ein Berliner Roman 1928–1933, hrsg. von Helga und Wilfried Schwarz. Berlin: AvivA 2013, 63–92.

[2] Vgl. dazu z.B. von Behren, Dirk: „Kurze Geschichte des §218 Strafgesetzbuch“. Bundeszentrale für politische Bildung. 10.05.2019. https://www.bpb.de/apuz/290795/kurze-geschichte-des-paragrafen-218-strafgesetzbuch (16.02.2021).

[3] Ausführliche biographische Informationen und eine Werkübersicht finden sich beispielsweise bei Unterberger, Rebecca: „‚Gegen den Verdummungsfeldzug der Reaktion…‘: Zu Leben und Werk von Maria Leitner (1892–1942). 2019. https://litkult1920er.aau.at/portraets/leitner-maria/ (01.03.2021).

[4] Leitner, „Wo gibt es Hilfe?“, 86.

[5] Ebd., 89

[6] Ebd., 64.

[7] Ebd., 88.

[8] Usborne, Cornelie: Cultures of Abortion in Weimar Germany. New York, Oxford: Berghahn 2007, 28.

[9] Eine Fülle weiterer Beispiele findet sich z.B. bei Usborne, Cultures of Abortion, 26ff.; Theesfeld, Karin: Abtreibungsdramen der Weimarer Republik. In: Realistisches Schreiben in der Weimarer Republik, hrsg. von Sabine Kyora, Stefan Neuhaus. Würzburg: Königshausen & Neumann, 193–214; Himmlmayr, Iris Susanna: Es kann nicht sein: der literarische Diskurs zur Abtreibung in Novellen und Romanen der Ersten Republik. Masterarbeit 2016.

[10] Neben den bereits genannten kann hier noch ein Aufsatz von Kerstin Barndt hinzugefügt werden. Vgl. Barndt, Kerstin: „Aesthetics of Crisis: Motherhood, Abortion, and Melodrama in Irmgard Keun and Friedrich Wolf“. In: Women in German Yearbook. Nr. 24/2008, 71–96.

[11] Leitner, „Wo gibt es Hilfe?“, 63.

[12] Ebd., 82.

[13] Ebd., 67.

[14] In Baums Roman erlebt die Hauptfigur Helene Willfüer, selbst ungewollt schwanger, diese Szene bei einer Hebamme: „Stöhnen, stöhnen, ein so weiches, kraftloses winselndes Stöhnen, daß es Helene wurde, als sähe sie das wegrinnende, immer rinnende Blut.“ Die Stöhnende im Nebenzimmer verstirbt schlussendlich. Baum, Vicky: stud. chem. Helene Willfüer. München: Heyne 1960, hier 84.

[15] Usborne, Cultures of Abortion, 34.

[16] Ebd., Kap. 5 „Womens Own Voices: Female Perceptions of Abortion“.

[17] Leitner, „Wo gibt es Hilfe?“, 82.

[18] Vgl. dazu z.B. Scriba, Arnulf: „Der Abtreibungsparagraph 218“. Deutsches Historisches Museum. 02.09.2014. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/alltagsleben/abtreibungsparagraph-218.html (17.02.2021).

[19] Wolf, Friedrich: „Cyankali“. In: Ders.: Professor Mamlock. Cyankali. Dramen. Berlin: Aufbau 2004, 87–162, hier: 159–160, Herv. i.O. gesperrt.

[20] Wolf, „Cyankali“, 160.

[21] Leitner, „Wo gibt es Hilfe?“, 82.

[22] Ebd., 64.

[23] Für die Unterstützung bei der Suche von Abbildungen danke ich herzlich Claudia Grammer vom Museum für Verhütung und Schwangerschaftsbruch (Wien) und Sebastian Pfeifer von der Bibliothek der Arbeiterkammer (Wien). Ich danke außerdem Tara Pire und Maddalena Casarini für die vielen staunenden Gespräche zum Thema und zu den Texten Leitners. Last but not least, gilt mein herzlicher Dank Michaela Hintermayr und dem Team von fernetzt für ihre wunderbare redaktionelle Betreuung.

Von |2021-03-14T19:22:33+01:0011. März 2021|QuellenArbeit|0 Kommentare

Stephanie Marx hat Germanistik und Philosophie in Wien und Berlin studiert. Seit 2018 ist sie Universitätsassistentin (Prae Doc) am Institut für Germanistik der Universität Wien. In ihrer Dissertation Literatur in der Wahrheitskrise untersucht sie das Verhältnis von Wahrheit und Politik in der Literatur der Neuen Sachlichkeit. Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie, Literatur der Zwischenkriegszeit, politische Literatur und die Politik der Literatur.

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