Marija J. erzählt mir im Frühling 2022 im Rahmen eines Interviews ihre Lebensgeschichte. Davon, wie sie in den 1960er Jahren aus Belgrad nach Wien gekommen ist und sich hier unter schwierigen Bedingungen behauptet hat. Freundinnenschaft spielt dabei eine zentrale Rolle.
Marija[1] ist zwanzig Jahre alt, als sie Belgrad Anfang der 1960er Jahre verlässt. Etwa sechzig Jahre später blickt sie im Kontext eines Interviews[2] zurück. Sie beginnt ihre Lebensgeschichte mit dem Aufbruch nach Wien, erzählt von ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, prekären Wohnverhältnissen, ihren Beziehungen zu Männern und von ihren Kindern. Hier schließt sie ihren ersten Erzählbogen.
Eine unerwartete Wendung
Bevor ich eine erste Nachfrage stelle, setzt Marija nochmal an. Die Geschichte, die sie nun erzählt, öffnet eine weitere Perspektive auf ihre Lebensgeschichte. Sie erzählt nun von einer Freundinnenschaft, der sie eine wesentliche Bedeutung für ihr (Über)Leben als Migrantin in Österreich und als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft zuschreibt.
„Ich habe dir kurz erzählt mein Leben. Aber so wie jede Person, habe ich auch meine intimen Geheimnisse und die einzige Person, weißt Du’s, […] ich habe jahrelang gehabt eine Freundin. Das hab ich vergessen zu erzählen. […] Ich hab jahrelang, ich hab 30 Jahre gehabt beste Freundin. Wir zwei war ma ein Herz und eine Seele.“[3]
Das Interview mit Marija ist für mich daher eine besonders spannende Quelle. Dieser Spur einer Freundinnenschaft zwischen zwei Migrantinnen aus Jugoslawien möchte in meinem Beitrag weiter folgen. Bevor ich die Geschichte fortsetze, soll die Episode aber in einen breiteren historischen und historiographischen Rahmen eingeordnet werden.
Arbeitsmigrant:innen in den 1960er und 1970er Jahren
Im Kontext des Wirtschaftsaufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg wirbt die Republik Österreich gezielt Arbeitskräfte aus dem Ausland an. Abkommen mit Spanien (1962), der Türkei (1964) und Jugoslawien (1966) sollen die Anwerbung regeln. Die meisten der rekrutierten Arbeiter:innen kommen aus der benachbarten Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) nach Österreich.[4] Die wichtigsten Branchen, in denen die angeworbenen Menschen arbeiten, sind Leder- und Textilindustrie, Bau und Tourismus.[5] Schon Anfang der 1960er Jahre wird es leichter, aus Jugoslawien nach Österreich auszureisen. Die ersten Arbeiter:innen kommen, so wie auch Marija, also bereits vor dem Anwerbeabkommen.[6]
Das Bild der sogenannten „Gastarbeit“ ist dabei stark männlich geprägt. Frauen, die in den 1960er und 1970er Jahren migrieren, werden lange vor allem als Ehefrauen in Abhängigkeit zu männlichen Migranten wahrgenommen. Neuere Studien zu Geschichte der Arbeitsmigration zeigen, dass dieses Bild der historischen Realität nicht gerecht wird. Frauen stellen von Beginn an einen wichtigen Anteil der im Ausland rekrutierten Arbeiter:innen. 1962 sind es 19%, 1973 zum Höhepunkt der Anwerbung 31%.[7] Unter den jugoslawischen Arbeitsmigrant:innen ist der Frauenanteil noch höher ― 1971 liegt er bei 37%, 1981 bei 45%.[8]
Viele dieser Frauen migrieren selbstständig und sind auf dem österreichischen Arbeitsmarkt gefragt. Die Gründe für die Migration sind unterschiedlich. Die Hoffnung auf besseren Verdienst, geringe Chancen und einengende Bedingungen im Herkunftsland spielen eine Rolle, aber auch Abenteuerlust, familiäre Situationen und Liebe können zu Migration führen und deren Verlauf beeinflussen.[9] Marijas Biografie ist dafür ein gutes Beispiel.
Marijas Anfangsjahre in Wien
Marija kommt Anfang der 1960er Jahre als junge Frau nach Wien. In Belgrad aufgewachsen, muss sie sich nach dem Tod ihrer Mutter bereits als Jugendliche alleine durchschlagen. Mit 20 Jahren entscheidet sie sich nach Übersee auszuwandern und dort ein neues Leben zu beginnen. Während sie in Wien auf die Möglichkeit zur Weiterreise wartet, beginnt sie zu arbeiten.
Alles kommt anders als geplant: Marija wird schwanger. Legal kann sie die Schwangerschaft nicht abbrechen, eine illegal durchgeführte Abtreibung misslingt. Sie bekommt das Kind. Der Vater des Kindes zeigt kein Interesse. Marija entscheidet sich nun ganz bewusst, in Wien zu bleiben. Sie möchte die schwierige Anfangsphase der Migration, die vom Lernen einer neuen Sprache, massiver Ausbeutung im Arbeitsalltag und einem besonders prekären rechtlichen Status geprägt ist, nicht noch einmal durchlaufen.
Später verliebt sich Marija bei der Arbeit in einen anderen Mann. Als er wegen besserer Verdienstmöglichkeiten nach Deutschland auswandern möchte, weigert sie sich. Ihre Lebensbedingungen sind immer noch schwierig, aber sie hat sich einen gewissen Grad an Stabilität erkämpft ― eine Anstellung, eine Wohnung, einen Kindergartenplatz. Das möchte sie nicht aufgeben. Die beiden bleiben in Wien und heiraten. Marija bekommt ein zweites Kind. Die Beziehung zu ihrem Mann ist von Gewalt geprägt. Sie lässt sich scheiden, lebt aber mit Unterbrechungen weiter mit ihm zusammen.
Freund:innenschaft als übersehene Ressource
Marija erzählt in ihrer Lebensgeschichte sehr detailliert von ihrer besten Freundin. Die Erforschung der Gastarbeit in Österreich schreibt persönlichen Netzwerken eine durchaus zentrale Rolle in der Anwerbung und Organisation von Migration zu. Auch Vereine als Orte des Knüpfens neuer sozialer Beziehungen werden immer wieder thematisiert.[10] Freund:innenschaft als Stütze und Ressource im (Migrations-)Alltag, u.a. aus geschlechterhistorischer Perspektive, steht bisher aber noch nicht im Fokus der von mir rezipierten Texte.
Beim Transkribieren stolpere ich daher über diesen Abschnitt im Interview und wundere mich. Während Partner:innensuche, Ehe und Familie in vielen lebensgeschichtlichen Interviews eine wichtige Rolle spielen, ist es meiner Erfahrung nach selten, dass einer Freundschaft ― oder Freundinnenschaft ― so viel Raum in der Erzählung gegeben wird.
Die erste Begegnung der beiden Frauen
„Klopft jemand. Und ich geh zur Türe und mach ich die Türe auf. Steht da die Jovana. […] Und fängt an zu Weinen und sagt: ‚Bitte lassen Sie mich rein!‘ Ja, was soll ich dir sagen? Sag ich: ‚Na kommen’s herein!‘ Und sie fangt hysterisch zum Weinen an und sagt, dass er sie verlassen hat. Hat ihr kein Geld gelassen. Jetzt sitzt sie hier, sie kann die Pension nicht zahlen. Kennt niemanden. Ich bin die Einzige. Und ich soll ihr helfen.“[11]
Jovana ist ebenfalls aus Jugoslawien. Am Vortag war sie mit einem jungen Mann an Marijas Haus vorbeigekommen und hatte gehört, dass diese dieselbe Sprache spricht. Das Paar kommt aus Salzburg nach Wien, auf der Suche nach einem Bekannten, der ihnen eine Stelle in Wien versprochen hat. Als sie ihn nicht finden und der junge Mann sie verlässt, fasst Jovana Mut und wendet sich an Marija. Sie darf bleiben und wird die nächsten Nächte auf einem von einer Nachbarin geliehenen Fauteuil in der Küche schlafen.
Eine Freundinnenschaft beginnt
Als Jovana an ihre Türe klopft, lebt Marija bereits seit einigen Jahren in Wien und hat gerade ihren späteren Mann kennengelernt. Kurz nachdem Jovana ankommt, fliegt Marija für einen Schwangerschaftsabbruch nach Belgrad.[12] Ihr Freund soll in der Zwischenzeit bei seiner Mutter übernachten. Als die beiden Marija nach ein paar Tagen vom Flughafen abholen, bricht Jovana in Tränen aus.
Marijas Freund hatte doch bei Jovana in der Wohnung geschlafen. Marijas erster Gedanke: ihr Freund hat Jovana vergewaltigt. Auch für Jovana stand eine Vergewaltigung als Möglichkeit im Raum. Sie erzählt, dass sie vor lauter Angst vor einem Übergriff Durchfall bekommen und die halbe Nacht auf dem Klo am Gang verbracht habe. Die beiden bestreiten aber, dass es zu sexualisierter Gewalt gekommen ist. Marijas Erzählung macht deutlich, wie präsent (sexualisierte) Gewalt im Leben beider Frauen ist.
Auch an anderen Stellen im Interview zeigt sich, dass die Beziehungen zu ihren Ehemännern von geschlechterspezifischen Hierarchien und von Gewalt geprägt sind. Institutionalisierte Hilfe gibt es damals kaum: so wird etwa das erste Frauenhaus in Wien erst einige Jahre später eröffnen. Die enge Freundinnenschaft die in den nächsten Jahrzehnten zwischen ihnen entsteht, wird so eine wichtige Stütze im Leben beider Frauen.
Freundinnenschaft und Migrationsbiografien
Die Episode erzählt von Freundinnenschaft, Liebe, Eifersucht und (potenzieller) sexueller Gewalt in einer konkreten Beziehungskonstellation zwischen den drei involvierten Akteur:innen. Was dabei zunächst deutlich wird, ist die Bedeutung dieser Geschichte in Marijas individueller Biografie. Sie widmet ihrer Freundin einen, aus meiner Interviewerfahrung, ungewöhnlich langen Abschnitt ihrer Lebensgeschichte und misst der Beziehung zu Jovana damit einen hohen Stellenwert bei.
Die Geschichte wirft aber auch größere Fragen nach den Handlungsspielräumen der beiden Frauen und der Bedeutung von Freundinnenschaft in Migrationsbiografien auf. Ich lese die Episode, und breiter gedacht Marijas Biografie keineswegs im Sinne einer stereotypen Darstellung migrantischer Frauen als Opfer von Unterdrückung und Gewalt.[13] Ganz im Gegenteil, zeugt sie für mich von bewusst genutzten Spielräumen in der Entscheidungsfindung und im Handeln ― vor dem Hintergrund äußerst prekärer ökonomischer und sozialer Bedingungen.
Gerade die geteilten Lebensumstände der Frauen, das Zusammenwirken geschlechterspezifischer und migrationsspezifischer Machtverhältnisse, dürften diese Beziehung ganz besonders wichtig für Marijas Biografie gemacht haben. So zeugt die Geschichte für mich auch von Solidarität zwischen den beiden Frauen als zentraler sozialer und psychischer Ressource für die Akteurinnen, die im Wien der 1960er Jahre als Migrantinnen und als Frauen doppelter Marginalisierung ausgesetzt sind.
Auch an anderen Stellen im Interview thematisiert Marija Freundinnen als wichtige Unterstützerinnen ― z.B. bei der Suche nach Arbeit und Wohnung, aber ganz besonders in ausbeuterischen und gefährlichen Situationen am Arbeitsplatz und im eigenen Zuhause. Das lebensgeschichtliche Interview mit Marija kann somit als Anregung und Ausgangspunkt dienen, neben familiären Beziehungen auch Freundschaft, und insbesondere Freundinnenschaft in den Fokus einer geschlechtersensiblen Migrationsforschung zu rücken.
Quelle
Interview mit Marija J. geführt am 8. April 2022 in Wien.
Anmerkung zu Abbildung 1:
Die Original-Bildunterschrift des Fotos lautet: „Ein Küßchen von Irina Nowicka für ihre Kollegin Gisela Glas ist der Dank für die freundschaftliche Hilfe. Die junge Arbeiterin Irina kommt aus der VR Polen und arbeitet seit vier Jahren im Kombinat VEB Elektro-Apparate-Werke Berlin-Treptow. Sie ist eine vorbildliche Stanzerin und wurde anläßlich des internationalen Frauentages zum zweitenmal als Aktivist der sozialistischen Arbeit ausgezeichnet.“
Der Betrieb war einer der größten Hersteller von Elektrogeräten in der DDR. Industriefotos wie dieses wurden häufig von der Partei- und Staatsführung in Auftrag gegeben, um deren Ideale zu propagieren: Die Bilder glorifizieren den Sozialismus, die Arbeit in Betrieben und den individuellen Arbeitseinsatz.
Anmerkungen
[1] Die Namen der genannten Akteur:innen sind auf Wunsch der Interviewpartnerin Pseudonyme.
[2] Das Interview habe ich im Rahmen meiner Dissertation geführt. Methodisch arbeite ich mit sehr offenen, narrativen Interviews, bei denen die Interviewpartner:innen zunächst frei ihre eigenen Lebensgeschichte erzählen, bevor ich immanente und exmanente Nachfragen stelle. Zur Methode siehe u.a. Reinhard Sieder, „Erzählungen analysieren – Analysen erzählen. Praxeologisches Paradigma, Narrativ-biographisches Interview, Textanalyse und Falldarstellung.“ In: Karl Wernhart, Werner Zips (Hg.), Ethnohistorie. Rekonstruktion, Kulturkritik und Repräsentation. Eine Einführung (Wien 2014) 150-180.
[3] Interview mit Marija J. geführt am 8. April 2022, 1. Aufnahme, 00:37:31-00:38:30. Das Interview wurde auf Deutsch geführt und wortgetreu transkribiert. Die hier zitierten Stellen sind zur besseren Lesbarkeit sprachlich leicht bereinigt.
[4] Vida Bakondy, “Austria Attractive for Guest Workers?”: Recruitment of Immigrant Labor in Austria in the 1960s and 1970s. In: Günter Bischof, Dirk Rupnow (Hg.), Migration in Austria (New Orleans/Innsbruck 2017) 113-138, hier 114-115.
[5] Verena Lorber, To Come into Focus: Female “Guest Workers” from Former Yugoslavia in Austria (1960-1980). In: Günter Bischof, Dirk Rupnow (Hg.), Migration in Austria (New Orleans/Innsbruck 2017) 161-186, hier 168-169.
[6] Francesca Rolandi, Escaping Yugoslavia. Italian and Austrian Refugee Policy toward Yugoslav Asylum Seekers after -World -War II. In: Wolfgang Mueller, Karlo Ruzicic-Kessler, Philipp Greilinger (Hg.), The Alps-Adriatic Region 1945-1955. International and Transnational Perspectives on a Conflicted European Region (Wien 2018) 85-109, hier 105.
[7] Lorber, To Come into Focus, 167-169; siehe auch Elisabeth Koch, Viktorija Ratković, Manuela Saringer, Rosemarie Schöffmann, „Gastarbeiterinnen“ in Kärnten. Arbeitsmigration in Medien und persönlichen Erinnerungen (Klagenfurt 2013).
[8] August Gächter, 50 Jahre jugoslawische Gastarbeit in Österreich. In: Ali Özbaş, Handan Özbaş, Joachim Hainzl (Hg.), 50 Jahre jugoslawische Gastarbeit in Österreich (Graz 2016) 40-55, hier 44-45.
[9] Lorber, To Come into Focus, 174.
[10] Siehe z.B. Verena Lorber, Angeworben. GastarbeiterInnen in Österreich in den 1960er und 1970er Jahren (Göttingen 2017) 259-264.
[11] Interview mit Marija J. geführt am 8. April 2022, 1. Aufnahme, 00:44:01-00:44:46.
[12] Die Liberalisierung und Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen erfolgen im sozialistischen Jugoslawien früher als in Österreich. Ab 1952 sind Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischen Gründen erlaubt. Ab 1960 können Abbrüche auch aus sozialen Gründen bis zum dritten Monat legal durchgeführt werden, d.h. wenn davon auszugehen ist, dass die schwangere Frau durch die Geburt schwere familiäre, persönliche oder materielle Konsequenzen zu erwarten hat. In ungefähr 95% der Fälle wird dem Wunsch zum Abbruch von den zuständigen Kommissionen stattgegeben. Ab 1969 sind Abtreibungen dann bis zur zehnten Schwangerschaftswoche erlaubt. Siehe Chiara Bonfiglioli, Sara Žerić, „Debating Abortion and Contraception in Socialist Yugoslavia: A Microhistorical Perspective.“ In: Narodna umjetnost 60/1 (2023) 147-162, hier 149-150.
[13] Lorber, To Come into Focus, 163.
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