1771 geriet eine als Hermaphrodit bezeichnete Person an der mährisch-ungarischen Grenze in die Mühlen der habsburgischen Behörden. Die amtlichen Nachforschungen galten nicht nur ihrem Geschlecht, sondern auch ihrer Adresse.
Das Mährische Landesarchiv (Moravský Zemský Archiv) birgt in seinen Beständen einen Akt, der auf der Rückseite den vielversprechenden Vermerk trägt:
„Brünner K: Herr CreysHauptmann zeiget an den Haus-Numerum des in Hungarn emigriren wollenden Hermaphroditen Anton Holinsky“.[1]
Wäre er nicht erhalten, wäre das Schicksal des Betreffenden unbekannt geblieben, denn kein König, keine Kaiserin hat jemals offiziell verkündet, dass Anton Holinsky (auch: Cholinsky) eine Frau ist; keine Biografie ist über ihn erschienen, weder zu Lebzeiten noch danach. Voltaire und Benjamin Franklin hat er nie besucht, und er führte auch keine diplomatischen Verhandlungen mit der Zarin Elisabeth I. Sein Vater war kein Adliger, auch kein Rechtsanwalt; nie schlossen englische Buchhalter Wetten auf sein Geschlecht ab, und es ist unbekannt, ob er jemals als Amazone an Fechtturnieren teilgenommen hat.
Eine versuchte Grenzüberschreitung
Anton Holinsky ist Zeitgenosse des ungleich berühmteren Hermaphroditen Chevalier d’Eon de Beaumont, für den die eben erwähnten Begebenheiten zutreffen;[2] als er in den Quellen des habsburgischen Verwaltungsapparates auftritt, ist es gerade ein Jahr her, dass dem französischen König Ludwig XV. die ersten Gerüchte über das Geschlecht des Chevaliers d’Eon zu Ohren gekommen sind.
Aktenkundig wird Holinskys Fall, weil er bei einer versuchten Grenzüberschreitung aufgegriffen wird: Nach Ungarn will er auswandern, aus „Schmach“ über sein Schicksal und weil er dort „unentdeckt und in Ruhe seine Nahrung suchen“ will,[3] allein, er hat sich von seiner Herrschaft keinen Pass ausstellen lassen und steht somit in Verdacht, ein Konskriptionsflüchtling zu sein. Festgehalten wird Holinsky in Landshut (Lanžhot) in Mähren, von wo aus er zum Lundenburger Wirtschaftsamt überstellt wird.
Am 8. Oktober 1771 wird Anton Holinsky in Lundenburg (Břeclav) verhört: Er gibt an, aus dem zu den Olmützer Stadtgütern gehörigen Dorf Chilein (Cholina), Olmützer Kreis,[4] gebürtig und 23 Jahre alt zu sein. Im Frühjahr sei er einige Monate mit Marianna, Tochter des Franz Kulaty verheiratet gewesen, danach aber als anerkannter Hermaphrodit durch die Geistlichkeit von derselben „geschieden worden“. Dieser Vorfall habe ihm die „Schmach“ eingebracht und obendrein „seiner Nahrung Abbruch zugezogen“,[5] sodass er sich entschlossen habe, nach Ungarn zu gehen.
Nach dem Verhör wird Anton Holinsky vom Lundenburger Chirurg untersucht; dieser bestätigt nach Angabe des Lundenburger Oberamtmanns Carl Joseph Bittner, dass es sich bei Anton Holinsky „würcklich“ um einen Hermaphroditen handelt. Bittner fragt darauf beim Brünner Kreisamt nach, wie nun weiter vorzugehen sei, doch Michael Johann Althann, der Substitut des Brünner Kreishauptmanns, weiß auch nicht weiter, denn dieser casus specificus ist im Werbbezirkspatent vom 5. April 1771 nicht vorgesehen. Also wird die Angelegenheit dem mährischen Gubernium unterbreitet und Anton Holinsky nach Brünn (Brno) verschickt. Dort wird er am 22. Oktober 1771 wieder einer Untersuchung unterzogen, diesmal visitieren Stabschirurg Martis und Landschaftschirurg Mut[z]er in Beisein des Kreiskommissars; ihr Ergebnis:
Anton Holinsky ist „kein Hermaphrodit … sondern an seinen Geburtstheillen mit einem Naturfehler behaftet …, welcher ihme sowohl zum Ehestandt als zu allerhöchsten k.k. Kriegsdiensten vor undauglich an erkennet wird.“ [6]
Kein Platz mehr für Hermaphroditen
Die habsburgischen Ärzte folgen damit dem sich ab dem 18. Jahrhundert durchsetzenden Phantasma, dass Menschen „ein einziges, ein wahres Geschlecht“ zukommen müsse, der Gedanke an eine etwaige Vermischung der Geschlechter in einem Körper, an eine unbestimmte sexuelle Identität strikt abzulehnen sei. Eine solche Vorstellung, dass es Menschen gebe, „in denen die beiden Geschlechter zu variablen Anteilen nebeneinanderlagen“ war – gemäß der Darstellung Foucaults[7] – in den Jahrhunderten zuvor für das mittelalterliche und kanonische Recht kein Problem gewesen: Das bei der Taufe festgelegte Geschlecht konnte von einer solchen Person beim Wechsel ins Erwachsenenalter nach freiem Willen gewechselt werden, eine Entscheidung die dann allerdings bis zum Lebensende nicht mehr revidiert werden durfte.
Im 18. Jahrhundert wird den Subjekten dieses Recht, über ihr Geschlecht selber zu entscheiden, entzogen, wird es zur Aufgabe der Medizin, „das wahre Geschlecht“ zu bestimmen; Hermaphroditen sind keine Wunderwesen und auch keine Monster mehr, dürfen nicht mehr im „glückliche(n) Limbus einer Nicht-Identität“ (Foucault)[8] verharren, sondern werden einem medizinischen Blick unterworfen und in einer Sprache beschrieben, als gehe es um die Autopsie eines Leichnams. Der von der Sozialhistorikerin Karin Hausen so beeindruckend beschriebenen Polarisierung der Geschlechtscharaktere[9] fallen ab Ende des 18. Jahrhunderts auch die Zwischenwesen zum Opfer.
Es bliebe detailliert zu untersuchen, auf welche Weise jene staatsbildende Aktion zu diesem von Hausen konstatierten Vorgang beiträgt, deren Zeitgenosse Holinsky ist und die wohl dafür verantwortlich zeichnet, dass er überhaupt in das Mahlwerk der Behörden gerät: Die 1770 bis 1772 durchgeführte „Seelenkonskription“[10] nämlich, die als eine Art Volkszählung ein neues Rekutierungssystem vorbereiten soll und in deren Rahmen die Männer unter vorwiegend militärischen Gesichtspunkten in Formularen verzeichnet werden (die Frauen nur summarisch, was sich erst bei späteren „Konskriptionen“ wieder ändern wird). Ob eine Person zum Militär verwendbar ist oder nicht, dies ist auch eine Frage des Geschlechts, das fortan eindeutig zu bestimmen ist.
Die Frage nach der Hausnummer
Gewiss aber ist, dass Holinsky auch nach der angeführten Erkenntnis in den Akten als „Hermaphrodit“ bezeichnet wird, der Fall ist auch noch nicht gänzlich abgeschlossen: Bevor das mährische Gubernium den nötigen Pass zur Weiterreise erteilt, muss noch ein anderer Identitätsbestandteil festgestellt werden, muss erhoben werden, aus welcher Hausnummer Holinsky denn gebürtig sei. Diese Klärung folgt Ende Oktober, als der Brünner Kreishauptmann folgendes vermelden kann:
„In nachverhalt dieser hohen Verordnung habe dem Anton Hollinsky vorgeruffen, und befraget, aus welchem Haus Nr° derselbe gebührtig, darauf aber zur Antworth erhalten, daß, nachdeme derselbe ein SoldatenKind, folgsamb aus dem Dorff Chilein Ollmützer Creyses nicht gebührtig seye, Er auch keinen HausNro aldorten habe, hingegen das Haus, wo selber vor Trennung der Ehe mit seinem Weib gewohnet habe, seye Nr° 22.“ [11]
Das mährische Gubernium sieht nun keinen Anstand mehr, Holinsky einen Pass für eine Reise in ein hoffentlich erfülltes Leben zu erteilen, der Akt des Hermaphroditen wird geschlossen.
Anmerkungen
[1] Moravský Zemský Archiv, Bestand B1 Gubernium, R 93/1b, Kt. 1670, fol. 239–249: Akten 9.10.1771 – 8.11.1771.
[2] Zu Eon: Kates, Gary: Monsieur d’Eon ist eine Frau. Die Geschichte einer Intrige. Hamburg: Klein, 1996.
[3] Moravský Zemský Archiv, Bestand B1 Gubernium, R 93/1b, Kt. 1670, fol. 239–249: Akten 9.10.1771 – 8.11.1771.
[4] Schwoy, Franz Joseph: Topographie vom Markgrafthum Mähren. Wien: Hraschanzky, 1793, Bd. 1 („Kolein, mähr. Kolina, ehemals Cholin“ S. 307).
[5] Moravský Zemský Archiv, Bestand B1 Gubernium, R 93/1b, Kt. 1670, fol. 239–249: Akten 9.10.1771 – 8.11.1771.
[6] Moravský Zemský Archiv, Bestand B1 Gubernium, R 93/1b, Kt. 1670, fol. 239–249: Akten 9.10.1771 – 8.11.1771.
[7] Foucault, Michel: Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Frankfurt am Main: Suhrkamp es 1733, 1998 (Zitate S. 7f); vgl. Ders: Der geheimnisvolle Hermaphrodit, in: Ders.: Schriften – Dits et Ecrits. Bd. 3. 1976–1979. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 783 f.
[8] Foucault, Hermaphrodismus S. 14.
[9] Hausen, Karin: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart: Klett, 1976, S. 363–393. Digitalisat.
[10] Dazu: Tantner, Anton: Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie. (=Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit; 4). Innsbruck/Wien/Bozen: Studienverlag, 2007, in der Fassung der Dissertation von 2004 Open Access unter DOI: 10.25365/thesis.28.
[11] Zu den Soldatenkindern: Glösmann, Claudia: Das pädagogische Jahrhundert – Konzepte der Erziehung und Bildung im allgemeinen am Beispiel der Soldatenkinder zur Zeit Maria Theresias. Wien: Diplomarbeit an der Universität Wien, 1997.
Leave A Comment