Wie gestalteten sich die Beziehungen zwischen den ungarischen und österreichischen Frauenorganisationen vor 1914? Welcher Wissenstransfer kann beobachtet werden? Waren die ungarischen Frauenvereine im Vergleich zu den österreichischen im Rückstand? Ein Bericht aus dem Archiv.
In der Geschichte der ungarischen Frauenbewegung betrachten wir das Jahr 1896 als einen Wendepunkt.[1] Dieses Jahr markiert den Beginn der ersten Frauenorganisationen, die nicht mehr rein karitative oder Berufsorganisationen waren. 1896 nahm der Nőtisztviselők Országos Egyesülete [Landesverein der weiblichen Angestellten] seine Tätigkeit auf, im Dezember 1904 der Feministák Egyesülete [Verein der Feministen]. Neben der weltberühmten Feministin Rosika Schwimmer (1877, Budapest–1948, New York), spielte Vilma Glücklich (1872, Neustadt an der Waag–1927, Wien) eine wichtige Rolle in diesem Verein.
Die Zusammensetzung der Mitglieder und die Zielsetzungen dieser zwei Vereine waren sich in mehreren Hinsichten ähnlich: Bürgerliche Frauen kämpften für umfassende rechtliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Gleichberechtigung. Dies wurde auch durch ihre gemeinsam veröffentlichten Zeitschriften A Nő és a Társadalom [Die Frau und die Gesellschaft, 1907–1913, Budapest] und A Nő – Feminista Folyóirat [Die Frau – Feministische Zeitschrift, 1914–1928, Budapest] demonstriert.
Wie der Nachlass von Rosika Schwimmer in der New York Public Library zeigt, waren außerdem in erster Linie sie und Glücklich, aber auch andere Vereinsmitglieder, in der internationalen Frauenbewegung aktiv.[2] Sie nahmen an allen wichtigen Kongressen der International Woman Suffrage Alliance (IWSA) teil. Darüber hinaus ging Schwimmer 1914 als Korrespondentin verschiedener europäischer Zeitschriften und für die IWSA nach London.
Österreichische und deutsche Vorbildwirkung?
Die ungarische Frauenbewegung erreichte ihren Höhepunkt mit diesen zwei Vereinen zwischen 1904 und 1913. Schwimmer war unter den Teilnehmerinnen einer Reihe von Frauenkongressen (z.B. 1906 in Kopenhagen, wo sie die Publikation der Ius Suffragii (1906–1924) initiierte). Die Vereine und deren Akteurinnen waren sehr eng in die internationale Frauenbewegung eingebunden: Ungarn wurde 1904 Mitglied des International Council of Women (ICW), nur wenig später als die deutsche (1897) und österreichische (1903) Dachorganisation. In der IWSA wurde Ungarn sogar früher als Österreich ein vollständiges Mitglied (1906). Weder der Landesverein der weiblichen Angestellten, noch der Verein der Feministen fungierte ursprünglich als Dachorganisation. Mitglied in den internationalen Organisationen war der Magyarországi Nőegyesületek Szövetsége [Bund ungarischer Frauenvereine]. Er war aber sowohl in Ungarn, als auch auf der internationalen Ebene schwach, weswegen der Verein der Feministen die Initiative in mehreren Hinsichten übernehmen konnte.
Das stärkste Signal der Entwicklung einer präsenten ungarischen Frauenbewegung war vielleicht die Zeitschrift A Nő és a Társadalom [Die Frau und die Gesellschaft]. Mit dieser ersten feministischen Monatszeitung standen inländischen Feministinnen nicht mehr nur ausländische Periodika, sondern auch ein „heimischen Bericht“ zur Verfügung.
Die Publikation der ungarischen Zeitung bedeutete selbstverständlich nicht, dass Feministinnen aufhörten, ausländische Ereignisse und Entwicklungen zu verfolgen. Über die österreichischen und deutschen Frauenorganisationen berichtete die Redaktion fast immer positiv. Frauenorganisationen nicht nur in Budapest, sondern auch in den Provinzen der ungarischen Reichshälfte der Monarchie abonnierten mehrere österreichische und deutsche feministische Zeitschriften.
Die Programme und Projekte der ungarischen Feministinnen zeigen eine bedeutungsvolle Ähnlichkeit mit den österreichischen Modellen.[3] Eine der Aktivitäten mit Vorbildwirkung war etwa das Heimhof-Projekt von Auguste Fickert, das in allen mitteleuropäischen Staaten bekannt war. Die Idee wurde auch von der Beamtinnensektion in Temesvár (Timişoara) aufgegriffen, die ein Arbeiterinnenheim errichtete.
Rezeption der Zeitschriften
Das deutsche Organisationsleben war ein zu beherzigendes Exempel für die ungarische und auch für die österreichische Frauenbewegung. Die Feministinnen informierten sich regelmäßig über die deutsche Situation und manchmal beklagten sie sich über die Apathie der Frauen in Österreich-Ungarn. Der Umfang der Leserinnenschaft der österreichischen und ungarischen feministischen Zeitschriften dürfte sich im gesamten Zeitraum den Zahlen der westeuropäischen Organisationen nie angenähert haben. Das war wahrscheinlich die direkte Folge einer Lese- und Organisationskultur in Frankreich, England oder Skandinavien, die in den österreichisch-ungarischen Gebieten weniger ausgebildet war.
Neue Frauenleben
Es ist kein leichtes Unterfangen, die Zahl der Abonnentinnen von den Zeitschriften der österreich-ungarischen Frauenorganisationen festzustellen, weil die Herausgeber*innen ihre Unterlagen zu Subskriptionen nie veröffentlichten.[4] Wie Eva Klingenstein vermutet, wurde das Neue Frauenleben (1902–1918) von ungefähr 1.000 Leser*innen in Wien und in den Provinzen abonniert. Sie betont, dass der Allgemeine Österreichische Frauenverein (AÖF, 1893, Wien) – der führende bürgerlich liberale Frauenverein in Österreich, deren Verbindungen mit den oben erwähnten ungarischen Vereine ich untersuche – ständig vor dem Problem stand, dass die Zeitschrift nicht von allen Vereinsmitgliedern regelmäßig gelesen wurde. Aber der Herausgeberin (Auguste Fickert, 1855, Wien–1910, Maria Enzersdorf) gelang es zu erreichen, dass das Neue Frauenleben nach 1902 in Wiener Cafés, Konditoreien und Frauenklubs auflag. Das bedeutet, dass die Zahl der Abonnent*innen nicht mit der Zahl der Leser*innen identisch war.[5] Der Abonnementpreis der Zeitschrift betrug 4 Kronen jährlich.
Die Frau und die Gesellschaft
Nach meiner Berechnung wurde zum Vergleich A Nő és a Társadalom [Die Frau und die Gesellschaft] im Jahre 1907 an 2.100 Abonnent*innen gesendet. Die Verbreitung der Zeitschrift war also beschränkt, wenn sie auch offenbar von mehr Personen abonniert worden war als das Neue Frauenleben. Das lag unter anderem daran, dass die Abonnements insbesondere für die Arbeiter*innenklasse sehr teuer waren (10 Kronen in 1912). Zum Vergleich: Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kostete ein Kilogramm Brot ca. 0,5 Kronen, zehn Kilogramm Erdäpfel zwischen 0,8 und 1,1 Kronen. Sie wurde dennoch von mehreren Bibliotheken, Lesekreisen und Cafés bestellt, nicht nur in Budapest, sondern auch in den Provinzen.
Parallelen finden sich auch zwischen den Programmen der österreichischen und ungarischen Organisationen. Die Ideen von Industriekursen, Arbeitsbazaren und Stellenvermittlungsbüros kamen aus Deutschland und Österreich nach Ungarn.[6] So war zum Beispiel die Rechtshilfeinstitution Frauenrechtschutzstelle der Österreicherinnen für den ungarischen Gyakorlati Tanácsadó [Praktischer Berater] maßgebendes Vorbild.[7] Ab 1895 boten zwei Rechtsschutzbüros Frauen jeden Standes kostenlose Rechtsauskünfte an. Das eine hatte seinen Sitz in Dresden, das andere in Wien, in der Wohnung von Auguste Fickert, und half im Jahre 1906 in mehr als 1.100 Fällen.[8] Zwischen dem deutschen und dem Wiener Rechtsschutzverein war der Kontakt sehr eng.
„Mit dem Ausdruck des Bedauerns u. vorzügl. Hochachtung….“[9]
Nicht nur die Korrespondenzen der Frauenrechtsaktivistinnen, sondern auch ihre Artikel und die Protokolle der Generalversammlungen verraten wertvolle Informationen über die internationalen Netzwerke, die sich vor dem Ersten Weltkrieg herausbildeten. Die Mitglieder der oben erwähnten Vereine publizierten regelmäßig in den Zeitschriften von ausländischen Frauenvereinen. Außerdem nahmen sie oft an unterschiedlichen Vorlesungen, Vorträgen, Diskussionsabenden usw. der „Schwesternvereine“ teil. Deswegen standen sie in fortlaufender Korrespondenz miteinander. Regelmäßige Buchbesprechungen in den Zeitschriften waren im ungarischen Fall von großer Wichtigkeit, weil die Mehrheit der neu erschienenen Bücher in den deutschen und österreichischen Gebieten publiziert wurden. Aber der Transfer fand auch in die andere Richtung statt: Schwimmer schickte z.B. mehrere Artikel für das Neue Frauenleben und für andere Wiener Zeitungen, in denen sie die ungarische Frauenbewegung in ein vorteilhaftes Licht stellte. Während des ersten Weltkriegs verbrachte sie längere Zeit in Wien, wo sie mehrere Vorträge hielt.
Als Herausgeberin des Neuen Frauenlebens war es die Aufgabe von Auguste Fickert, Autor*innen zu gewinnen, die in der Zeitschrift Artikel veröffentlichten. Die Korrespondenzen und die anderen Archivquellen zeigen deutlich, dass diese nicht immer problemlos war. Nach der Gründung der Zeitschrift wurden die Schwierigkeiten merkbar, die zentralen internationalen Frauenrechtsaktivistinnen als Autorinnen zu gewinnen. Unter den weltberühmten Persönlichkeiten der Frauenbewegung – mit denen sie übrigens freundliche Briefe wechselte – wurde ihr Ersuchen 1902 nicht nur von der ersten in Deutschland promovierten Juristin, Anita Augspurg, sondern auch von Bertha von Suttner zurückgewiesen. Lily Braun sagte Anfragen in den Jahren 1906 und 1907 nicht nur des österreichischen, sondern auch des ungarischen Vereins ab.[10]
Dennoch muss betont werden, dass beide Frauenrechtsaktivistinnen auch eine Menge positive Rückmeldungen bekamen: 1891 – vor der Gründung des AÖFs – wurde Fickert von Suttner zu einer Frauenversammlung eingeladen.[11] Ein paar Jahre später war sie in ständiger Korrespondenz mit dem deutschen Schriftsteller Ludwig Fulda, der während seines Aufenthaltes in Wien auch einen Vortrag im Verein hielt.[12] Nach Ungarn kamen deutsche Referent*innen wie Adele Schreiber, Marie Stritt und Hans Dorn. Schwimmer hatte zudem z.B. Maria Lischnewska, die sich mit der Fabriksarbeit der Frauen beschäftigte, und die wohlbekannte Protagonistin der Reformkleidbewegung, Hedwig Buschmann aus Berlin, zu Gast, die auch die Organisationen in den Provinzen besichtigten.[13]
Conclusio
Auf Grund der oben erwähnten Tatsachen können wir feststellen, dass unter den bürgerlichen Frauenorganisationen in den mitteleuropäischen Staaten vor dem Ersten Weltkrieg ein bedeutender Wissenstransfer stattfand. Rosika Schwimmer selber schätzte die Bedeutung dieses Wissenstransfers auch von westeuropäischen und internationalen Organisationen als unerlässlich für die Entwicklung und Tätigkeiten der ungarischen Frauenbewegung ein. Sie arbeitete daher kontinuierlich daran, mit mehreren international relevanten Frauenrechtsaktivistinnen enge Kontakte aufzubauen.[14]
Dennoch kann resümiert werden, dass die ungarische Bewegung in vielerlei Hinsicht im Rückstand gegenüber den Frauenbewegung in Österreich war, was an den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Differenzen zwischen den zwei Ländern lagen. So waren die Traditionen der Zivilorganisationen in Österreich ausgeprägter, die im Falle der Frauenbewegung ausschlaggebend waren. Daher sollte auch betont werden, dass in Ungarn die Frauenbewegung sehr stark von einzelnen Personen abhängig war, was auch auf kulturelle und spezielle ungarische organisationsgeschichtliche Eigenartigkeiten zurückzuführen ist.
Die Situation der ungarischen bürgerlich-liberalen Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg war also sehr spezifisch. Nach 1904 entwickelte sich die Bewegung parallel zu mehreren west- und nordeuropäischen Organisationen. Durch die Mitwirkung von Rosika Schwimmer wurde die internationale Bedeutung des Vereins der Feministinnen so groß, dass 1913 der Kongress des IWSA in Budapest stattfand – das Wiener Frauenstimmrechtskomitee hingegen durfte nur eine zweitägige Vorkonferenz veranstalten. Im Jahre 1917 hatte der ungarische Verein bereits mehr als 3.000 Mitglieder. Dieser Umstand beweist, dass der Zuwachs an Mitgliedern auch nach dem Ausbruch des Weltkriegs nicht aufhörte.
Die Zwischenkriegszeit führte zu einer Agonie der bürgerlich-liberalen Organisationen. Während sich der Allgemeine Österreichische Frauenverein im Jahre 1919 auflöste, bestand der Verein der Feministen noch mehr als zwei Jahrzehnte weiter. Nach dem Krieg aber gewann er seine Stärke, mit der er die ohnehin bunte politische Palette in der Zeit der Doppelmonarchie belebt hatte, nicht mehr zurück.
Anmerkungen
[1] Die Forschung wurde von dem ungarischen ÚNKP-17-3-IV Neue Nationale Vorzüglichkeit Programm gefördert.
[2] Der Nachlass besteht aus 600 Schachteln, woraus ich etwa 150 aufgearbeitet habe. Diese Schachteln beinhalten die Korrespondenzen mit internationalen Feministinnen vor 1921. Diese Quellen, die auf Ungarisch, Deutsch, Englisch und Französisch geschrieben sind, wurden noch nie systematisch beforscht.
[3] Zur transnationalen Dimensionen der Frauenbewegung siehe Leila G. Rupp, Constructing Internationalism: the Case of Transnational Women’s Organisations, in: Karen Offen, Globalising Feminismus 1789–1945 (New York: 2010) 139-153; Francisca de Haan, Women’s Activism: global perspective from the 1890s tot he present (London: 2013). Zur ungarischen Frauenbewegung siehe auch Czeferner Dóra, A női munka interpretációja (Budapest: 2014).
[4] Für die detaillierte Berechnung siehe Czeferner Dóra, Egy periodika a nők egyenjogúságáért, in: Médiakutató, Nr. 2 (2014) 49-151.
[5] Eva Klingenstein, Die Frau mit Eigenschaften (Wien: 1997).
[6] Das wird in mehreren Artikeln in Die Frau und die Gesellschaft betont. Siehe Tätigkeitsberichte des Vereins der Feministen und des Landesvereines der weiblichen Angestellten zwischen 1907 und 1913.
[7] Über dem Anfang ihre Tätigkeit siehe FG 4 (1907): 63., FG 8 (1907): 141.
[8] AÖF Tätigkeitsbericht 1910.
[9] Gabriele Reuter an Auguste Fickert. Nachlass Fickert. ÖNB M F.34. Fickert 365. 18. Januar 1902.
[10] ÖNB M F.34. Fickert 365. 16. August 1906. Auf dem ungarischen Fall musste die ihren Vortrag wegen einer Krankheit absagen. FG 4. (1907): 63.
[11] ÖNB M F.34. Fickert 365.
[12] ÖNB M F. 34. Fickert 365.
[13] FG 1 (1912): 18.
[14] Sie wechselte Briefe (neben anderen) mit den folgenden Personen: Carrie Chapman Catt, Cicely Corbett, Hewig Dohm, Millicent Fawcett, Emmeline Pathick-Lawrence, Clara Zetkin, Marianne Hainisch, Leopoldine Kulka und Marie Lang.
[…] In Korrespondenz. Frauenvereine in Österreich-Ungarn; von Dóra Czeferner (Link) […]
[…] gibt ihr Beitrag im Weblog fernetzt: In Korrespondenz. Frauenvereine in Österreich-Ungarn (Link). Sie ist derzeit wissenschaftliche Hilfsarbeiterin des Instituts für Geschichte, im […]
[…] In Korrespondenz. Frauenvereine in Österreich-Ungarn; von Dóra Czeferner (Link) […]
[…] im Weblog von fernetzt: „In Korrespondenz. Frauenvereine in Österreich-Ungarn“ (2018) (Link). Sie ist derzeit wissenschaftliche Hilfsarbeiterin des Instituts für Geschichte im […]
[…] im Weblog von fernetzt: „In Korrespondenz. Frauenvereine in Österreich-Ungarn“ (2018) (Link). Sie ist derzeit wissenschaftliche Hilfsarbeiterin des Instituts für Geschichte im […]
[…] im Weblog von fernetzt: „In Korrespondenz. Frauenvereine in Österreich-Ungarn“ (2018) (Link). Sie ist derzeit wissenschaftliche Hilfsarbeiterin des Instituts für Geschichte im […]