Von 1867 bis 2005 stand in Hohenau an der March die von der Familie Strakosch gegründete Zuckerfabrik und bot eine große Zahl an Arbeitsplätzen. Das Ortsmuseum übernahm nun die Archivbestände des Unternehmens. Eine regional- und geschlechtergeschichtliche Spurensuche.
Seit ein paar Jahren bearbeitet das Museum Hohenau an der March im nordöstlichen Niederösterreich Dokumente, die in der Hohenauer Zuckerfabrik der Brüder Strakosch entstanden. Die Geschichte der Fabrik hat diese Gemeinde maßgeblich geprägt – von der Gründung 1867 an einem durch Nordbahn und dem nahen Fluss gut erschlossenen Standort mitten in der Donaumonarchie bis hin zu Debatten um Zuckerkontingentierung in der EU, die letztlich zur Schließung des Werks 2005 und zum Verlust zahlreicher Arbeitsplätze in der Region führten. Um das erhalten gebliebene Fabriksarchiv kümmern sich zusammen mit dem Museumsvorstand ein paar ehemalige Angestellte, ohne deren Fachwissen die Quellen um einiges schwerer zugänglich wären.[1]
Das Museum, in dem ich schon seit 2004 mitarbeite, wird ehrenamtlich betrieben – es hat also wesentlich andere Ressourcen für Forschungs- und Ausstellungstätigkeiten zur Verfügung als große Institutionen, lebt aber dafür auch von einem sehr direkten Austausch mit den Besucher*innen. Von deren Hinweisen profitiert auch die Erschließungsarbeit im Archiv – Vernetzung funktioniert also im Kleinräumigen ganz ähnlich wie auf einer europäischen Ebene, die Elizabeth Kata hier auf dem Blog beschrieben hat.
Für die Geschichte der Fabrik haben sich über die Jahrzehnte bereits mehrere Autor*innen interessiert, die Studien reichen von einer von der Firmenleitung beauftragten Jubiläumschronik über Porträts jüdischen Unternehmer*innentums bis zu einer wirtschaftsgeschichtlichen Diplomarbeit.[2]
Diesen Bearbeitungen ist gemeinsam, dass sie noch nicht Einblick in all jene Dokumente hatten, die nun nach der Werksschließung vorliegen. Die derzeit vorhandenen Briefe, Listen, Geschäftsaufzeichnungen, Fotografien und Pläne legen neben regional- und wirtschaftshistorischen Fragen vor allem auch frauen- und geschlechtergeschichtliche Perspektivierungen nahe.
Besonders deutlich wird das an den zahlreichen archivierten Fotografien. Eine der frühesten erhaltenen Aufnahmen beispielsweise zeigt Elise Strakosch, geb. Grünfeld (1876–1968), die Ehefrau des damaligen Fabriksleiters mit ihren drei Kindern 1914 bei der Besichtigung einer Baustelle auf dem Gelände.[3] Das Bild, das hier am Beginn des Beitrags zu sehen ist, steht auch am Beginn einer Reihe vieler anderer, die bis zuletzt laufend zur Dokumentation der Ausbauten des Werks gemacht wurden.
Die Akteurinnenschaft von Elise Strakosch wie auch jene anderer, nicht direkt mit der Firmenleitung betrauter männlicher wie weiblicher Familienmitglieder würde Stoff für größere Untersuchungen bieten. Sie nahmen Einfluss auf die Entwicklung des Unternehmens, ob als „stille Gesellschafterinnen“ oder über ihre persönlichen Netzwerke, die nach der „Arisierung“ des Unternehmens[4] und der (für die meisten Familienmitglieder geglückten) Flucht vor dem NS-Terror in extremer Weise relevant wurden.
Andere der vorliegenden Fotografien lassen nach weiteren Verknüpfungen zwischen Geschlecht und Raum suchen – so präsentieren sich etwa Maschinenhallen als vordergründig „männlich“ oder das chemische Labor als „weiblich“. Solche Zuordnungen werden aber schnell wieder brüchig, wenn z.B. die in der Rübenverarbeitungszeit im Herbst und in der restlichen Zeit des Jahres doch sehr verschiedenen Arbeitsabläufe und Beschäftigungsverhältnisse mitgedacht werden.[5] Konzepte von Zeit, Arbeit und Betriebsamkeit spielen hier also ebenfalls eine Rolle.[6]
Die Zuckerfabrik – ein Männer-Ort?
Auch Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie lässt sich an den Bildern ablesen: in der Würfelzuckerabteilung etwa an der unterschiedlichen Kleidung und der Position im Raum: von denen, die die Kisten zusammenzimmern, über jene, die offenbar eher zur Inspektion kamen, bis zu den weiß gekleideten, direkt mit den Zuckerwürfeln Beschäftigten im Hintergrund. Hinzukommen – auf Fotos weniger deutliche – sprachliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten der slowakisch-, tschechisch- und deutschsprechenden Arbeiter*innen, die vor allem in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung wegen der Fabrik nach Hohenau gezogen waren und den Ort auf etwa 4.000 Einwohner*innen wachsen ließen (Stand: 1934, im Vergleich zu ca. 1.500 in den 1830er Jahren).
Wie schon erwähnt und wie auch die gleichen Jahreszahlen bei zwei Fotos hier zeigen, wurden immer wieder Dokumentationen des gesamten Werks bei lokalen Fotografen, aber auch bei überregional tätigen Industriefotografen in Auftrag gegeben. Andere Aufnahmen, etwa von Firmenfeiern, Ausflügen, Jausen in der Werkstatt, entsprechen eher dem Charakter „privater“ Fotografien. [7] Im Zuge der Vorbereitung zweier erster Ausstellungen im Museum Hohenau 2015 und 2017 wurden dem Museum auch private Fotos aus der ehemaligen Belegschaft zur Verfügung gestellt, sodass das Archiv immer noch wächst.
Die erste Ausstellung mit dem Titel „Arbeiten für den Ort“ im Herbst 2015 stellte die Unternehmerfamilie und die Verbindungen zwischen Fabrik, Sozial- und Kulturleben im Ort dar. Sie konnte viele Objekte bereits genauer einordnen – und hat auch wieder aufgezeigt, wie viele Leerstellen, Widersprüche und weiter Erforschenswertes es noch gäbe. Eine kleine Oral-History-Veranstaltung zum Abschluss der Ausstellung brachte wiederum anderes Wissen zum Vorschein: kurze Episoden aus dem Alltag von Arbeiter*innen, die die großteils von der Firmenleitung zusammengestellten Quellen ergänzen können. Am 3. Juni 2017 wird in Hohenau die zweite Ausstellung „Arbeiten im Ort“ eröffnet, die sich dem Betriebsalltag widmen wird.
In der lokalen Museums- und Archivarbeit geht es vor allem um Deutungen von der und für die dortige Bevölkerung – das kann einengend und nur eingeschränkt relevant wirken. Die Quellen aber zeigen eindrücklich, dass sie noch mehr sein können: kleine, aber aussagekräftige Teilchen globaler wie ortsspezifischer Entwicklungen. Sie bieten Anfänge und Anknüpfungspunkte, nicht zuletzt für Fragen nach dem Zusammenhang von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen.
Anmerkungen
Alle Originalfotos sind aus dem Archiv 138 Jahre Zuckerfabrik, Museum Hohenau an der March. Ausstellungsfoto: Karl Schubtschik, September 2015.
[1] Siehe den ersten aus dem Archivmaterial entstanden Aufsatz: Brigitte Semanek, Herbert Liska, Karl Schubtschik, Ernst Springer und Rudolf Springer: Die Hohenauer Zuckerfabrik der Brüder Strakosch 1867 bis 2005, in: Werner Kohl und Susanna Steiger-Moser (Hg.), Die österreichische Zuckerindustrie und ihre Geschichte(n) 1750–2013, Wien/Köln/Weimar 2014, 223–248.
[2] Jakob Baxa, Hundert Jahre Hohenauer Zuckerfabrik der Brüder Strakosch. 1867–1967, Wien 1967; Marie-Theres Arnbom, Friedmann, Gutmann, Lieben, Mandl und Strakosch. Fünf Familienporträts aus Wien vor 1938, Wien/Köln/Weimar 2002; Elisabeth Spanischberger, Die Rübenzuckerindustrie und ihre Auswirkungen auf Raum und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie aus dem östlichen Weinviertel, Dipl.Arb. Univ. Wien 1999.
[3] Elise Strakosch musste vor der Verfolgung durch die Nationalsozialist*innen in die Schweiz flüchten und lebte dort auch nach 1945. Ihr Sohn Oskar kehrte aus dem Exil in Großbritannien zurück und bekam Ende der 1940er Jahre die „arisierte“ und später schwer beschädigte Fabrik restituiert. Elise Strakosch stiftete der Belegschaft zu ihrem 80. Geburtstag ein „Werkskasino“ mit Festsaal, Kantine und Bibliothek.
[4] Ulrike Felber, Peter Melichar, Markus Priller, Berthold Unfried, Fritz Weber, Ökonomie der Arisierung Teil 2: Wirtschaftssektoren, Branchen, Falldarstellungen (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 10, 2), Wien/München 2004, 831–850.
[5] 1921 beispielsweise gab es laut der Aufzeichnungen im Archiv während der Rübenverarbeitung im Herbst 485 Arbeiter und 185 Arbeiterinnen, im Frühling, wenn Instandsetzungsarbeiten gemacht wurden, jedoch nur 128 Männer und 7 Frauen. In den 1950er Jahren, als die Beschäftigtenzahlen am höchsten waren, waren während der Rübenverarbeitungskampagne ca. 900 Männer und 400 Frauen in der Fabrik tätig.
[6] Vgl. Peter-Paul Bänziger, Der betriebsame Mensch: ein Bericht (nicht nur) aus der Werkstatt, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 23, 2 (2012), 222–236, oder Theresa Adamski, Arbeiten und Konsumieren in einer Betriebsstadt: Geschlechter- und Arbeitsdiskurse in einem Propagandamedium des tschechischen Schuhherstellers Bat’a (1935–1938), Dipl.Arb. Univ. Wien 2015.
[7] Vgl. dazu Li Gerhalter, „Wie die Schule aus war hat die Else sie zum 3. Mal gefotet“. ‚Private‘ Fotografien in Archiven und Sammlungen für Selbstzeugnisse als (geschlechter-)historische Quellen, in: L’Homme. Z. F. G., 26, 2 (2015): Visuelle Kulturen, 145–150. Anton Holzer, Fotografie in Österreich: Geschichte, Entwicklungen, Protagonisten. 1890–1955, Wien 2013.
[…] Arbeit vor Ort; von Brigitte Semanek (Link) […]