Eine Frauenbiografie im gesellschaftspolitischen Kontext der Zwischenkriegszeit: Die Lebensgeschichte Rosa Jochmanns zeigt, was Geschlechtergerechtigkeit und Demokratie mit Handlungsräumen von Frauen zu tun haben.
Die Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit ist eng mit den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Demokratisierung in allen Lebensbereichen verbunden. Selbiges gilt für die Schließung und Öffnung von politischen Handlungsräumen. Diese Zusammenhänge lassen sich anhand der Biografie der Sozialdemokratin, Überlebenden des nationalsozialistischen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück und Zeitzeugin Rosa Jochmann (1901-1994) zeigen.
Der Beitrag fokussiert auf die Zeit des sozialdemokratisch regierten Wiens in den 1920er- und 1930er Jahren. Dabei wirft er Fragen nach dem Verhältnis von Demokratie und Autoritarismus, Handlungsräumen und Geschlecht in Zeiten des Erstarkens rechter Kräfte auf.
Kollektive und individuelle Aufstiegsgeschichte
Rosa Jochmann wuchs in einer Wiener-Tschechischen Arbeiterinnenfamilie als viertes von sechs Kindern auf. Als jugendliche Fabrikarbeiterin, Gewerkschafterin und bald auch Parteimitglied war Jochmann Teil der Frauen- und Arbeiterinnenbewegungen[1] nach dem Ersten Weltkrieg, deren damalige Stärke den politischen Möglichkeitsraum für das Reformprojekt des Roten Wiens eröffnete. Als Funktionärin begriff Jochmann sich als Teil des Roten Wiens, das bis ins hohe Alter einen emphatischen Bezugspunkt für sie darstellte.[2]
Jochmann erlebte die konkrete Verbesserung der Lebensverhältnisse mit der Durchsetzung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen in der Ersten Republik, z.B. die Einführung des Achtstundentags und des bezahlten Urlaubs, die Errichtung der Arbeiterkammer oder das Betriebsrätegesetz, infolgedessen sie umgehend zur Betriebsrätin gewählt worden war.[3]
Mit der Erringung des Wahlrechts fanden Frauen* als Wählerinnen und politische Akteurinnen offiziell Eingang in die Politik – so auch Jochmann. Die Handlungsräume von Frauen* wie Jochmann, deren Herkunft von klassen- und geschlechterspezifischen Ungleichheiten gezeichnet war, vergrößerten sich mit diesen Reformen. Auch wenn die wohlfahrtstaatlichen Maßnahmen längst nicht alle Einwohner*innen erreichten, bedeutete das Rote Wien politische Partizipation in der parlamentarischen Demokratie sowie Zugang zu Versorgung, Arbeit, Bildung und Infrastruktur.
Als Kind wohnte Jochmann als Kind in einer der für ihre Enge berüchtigten Küche-Kabinett-Wohnungen inklusive der so genannten „Bettgeher“. Als junge Frau hingegen konnte sie in einer kleinen Gemeindewohnung im 11. Wiener Gemeindebezirk leben, in einem „Einzelraum mit Vorzimmer, (…) neu und modern eingerichtet“[4]. Sie nutzte die öffentlichen Bibliotheken der Gemeinde sowie das Sport- und Kulturangebot.[5]
Wohnen – Leben – Arbeiten
Das kommunale Reformprojekt zielte auf die Vorwegnahme der sozialistischen Gesellschaft in einer Stadt. Umstrukturierungen in allen Lebensbereichen sollten den „Neuen Menschen“ und die „Neue Frau“ hervorbringen. Jochmann orientierte sich an dem Idealbild der „Neuen Frau“, das u.a. durch jugendliches Auftreten, eine sportliche Garçon-Figur und den klassischen Bubi-Kopf charakterisiert war.[6]
Auf Fotografien ist sie mit Kurzhaarschnitt und Reformmode zu sehen. Jochmann war in ein enges, informelles Freundinnennetzwerk eingebunden: Eine Gruppe von gleichaltrigen Frauen, überwiegend aus Arbeiterinnenfamilien, alle Sozialdemokratinnen und in den 1930er-Jahren um die dreißig Jahre alt. Gemeinsam wurden sie in den Debattenzusammenhängen der Frauen- und Arbeiterinnenbewegungen politisiert und diskutierten über die Reformen im Roten Wien, über Formen des Wohnens, Lebens und Arbeitens.
Die Debatten der Bewegungen fanden Eingang in die Architektur des kommunalen Wohnbaus, Überlegungen zu „Rationalisierung“ und „Zentralisierung der Hauswirtschaft“ beeinflussten die Gestaltung der Gemeindebauten in Form von Zentral(wasch)küchen oder Experimenten wie dem Einküchenhaus. Trotz vehementer Kritik am „Zwergenhaushalt“[7] (Therese Schlesinger) setzte sich letztlich jene Wohnungspolitik durch, die überwiegend auf das Wohn- und Lebensmodell der normativ gesetzten „Arbeiter-Kleinfamilie“ ausgerichtet war.
Care
Jochmann und ihr Freundinnennetzwerk diskutierten die Mehrfachbelastung der Frauen in Lohn-, Haus- und Erziehungsarbeit, die Arbeitsverhältnisse von Arbeiter*innen, Hausbediensteten und Angestellten. Politisch argumentierten sie für die Übernahme weiblich konnotierter Reproduktionsarbeiten durch staatliche Einrichtungen und folglich den Ausbau sozialer Infrastruktur wie Kinderbetreuungsstätten, Fürsorge-, Bildungs- oder Freizeiteinrichtungen.
Die wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften bewegten sich im Spannungsverhältnis zwischen der Verbesserung der Lebensverhältnisse und der Funktion als Instrument der Kontrolle, Disziplinierung und Verfestigung geschlechterspezifischer Arbeitsteilung[8]. Es war eben dieses Spannungsverhältnis, in dem sich die erweiterten Handlungsräume für Frauen* und Arbeiter*innen wie für Jochmann eröffneten.
In den Frauenzusammenhängen wiesen viele Protagonist*innen Lebensläufe auf, die nicht der bürgerlichen „weiblichen Normalbiografie“ (Trias von Heirat, Kindern und unbezahlter Hausarbeit) entsprachen, jedoch auch nicht dem Ideal der „ordentlichen Arbeiterfamilie“[9]. Jochmann sowie andere Frauen in ihrem Umfeld hatten keine Kinder; Schwangerschaftsabbrüche konnten durchgeführt werden. Einige lebten, so wie Jochmann, in einer Liebesbeziehung, ohne verheiratet zu sein.
Puppen für Buben
Wenn auch eine fundamentale Infragestellung der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung erst mit der Zweiten Frauenbewegung deutlich hörbar wurde, diskutierten die Frauen* bereits in der Zwischenkriegszeit Möglichkeiten der geschlechtergerechten Erziehung – die Jochmann offenbar in die Tat umzusetzen versuchte. In einem Brief wies Jochmanns Schwester sie auf die „Folgen“ ihrer Erziehungsmethoden bei dem Neffen hin:
„Liebe Schwester! (…) Otti (…) ist wirklich goldig und doch mein Schmerzenskind. Er, der schon sechs Jahre alt wird, spielt noch immer mit der von Dir gekauften Puppe. Will immer Kleidchen zum anziehen für sie haben (…). Das ist die Frucht Deiner Erziehung, einem Jungen eine Puppe zu kaufen. (…) [Es] muss Schluss gemacht werden mit den weiblichen Spielereien, da ja doch an ihre Stelle bald die Schultasche tritt.“[10]
Als politische Aktivistin sprach Jochmann auf Parteiversammlungen, Frauentagen, bei Demonstrationen, in der Arbeiterkammer und der Gewerkschaft. Sie referierte zu Themen wie: „Die moderne Frau“, „Die kameradschaftliche Ehe“, „Eheleben einst und jetzt“, „Die neue Frau in Rußland“oder „Die Internationale der Frauen“. Titel wie „Der Schandparagraph 144“ gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, „Kindersegen in der Wirtschaftskrise. (…) Für Geburtenregelung durch Empfängnisverhütung“oder „Die Frau als Zuchtstute“verdeutlichen ihre ablehnende Haltung gegen ein autoritär und patriarchal strukturiertes Familienmodell.[11]
Gegen Demokratie und Gleichberechtigung
Mit der Etablierung des Austrofaschismus fand nicht nur das Rote Wien, sondern auch das Experimentieren mit Geschlechterrollen ein Ende.
Das Bild der „modernen Frau“ als Symbol für Modernisierung und Emanzipation stellt eine Bedrohung für die Kirche, die Christlich-Sozialen und die sich formierenden faschistischen Bewegungen dar. Diese zielten auf die Festigung patriarchaler und hierarchischer Geschlechterverhältnisse. Umgekehrt bedeutete das autoritäre und faschistische Gesellschaftsmodell für Jochmann, die die Ideale des Roten Wiens und der „modernen Frau“ mittrug, einen Angriff auf ihre gesamte Lebensweise sowie auf die ihres sozialen Milieus.[12]
Umkämpfte Handlungsräume
Spätestens 1934 avancierte die Reetablierung konservativer Frauenbilder zur offiziellen Staatspolitik. Die austrofaschistische Regierung hob die im Bundesverfassungsgesetz festgeschriebene staatsbürgerliche Gleichberechtigung auf, trieb den Abbau von sozialen und politischen Rechten voran und schaffte das allgemeine und gleiche Wahlrecht ab. Die „Doppelverdienerverordnung“ gegen die Erwerbstätigkeit von Frauen, die sie in die Sphäre der unbezahlten Haus- bzw. Reproduktionsarbeit verwies, war bereits 1933 erlassen worden.
Durch den autoritären Umbau des Staates, die Entdemokratisierung und die Niederschlagung der Arbeiterinnenbewegung wurden die gesellschaftspolitischen Errungenschaften der sozialen Bewegungen der Zwischenkriegszeit, ihrer Parteien und Organisationen, sukzessive zurückgedrängt. In der Folge schlossen sich Handlungsräume, die in der Zwischenkriegszeit von den Arbeiterinnen-, Räte- und Frauenbewegungen erkämpft worden waren.[13]
Weitere Ausführungen zu diesem Thema finden sich in:
Duma, Veronika (2019): Rosa Jochmann. Politische Akteurin und Zeitzeugin, Wien: ÖGB Verlag.
Schwarz, Werner Michael/Spitaler, Georg/Wikidal, Elke (2019): Wien Museum Katalog „Das Rote Wien. 1919-1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel: Birkhäuser.
McFarland, Rob/Spitaler, Georg/Zechner, Ingo (2020): The Red Vienna Sourcebook, Camden House.
Informationen und Bilder zu Rosa Jochmann auf der Homepage: http://www.rosajochmann.at/
Anmerkungen
[1] Es gab in der Frauenbewegung mehrere Strömungen, die u.a. entlang von Parteilinien strukturiert war. Jochmann war Teil der proletarischen Frauenbewegung. Vgl. Hauch, Gabriella, Frauen bewegen Politik. Österreich 1848-1938, Innsbruck/Wien/Bozen 2009.
[2] Vgl. Duma, Veronika, Rosa Jochmann. Politische Akteurin und Zeitzeugin, Wien 2019, 104-116.
[3] Vgl. Duma, Veronika, Rosa Jochmann. Politische Akteurin und Zeitzeugin, Wien 2019, 67-103.
[4] Wiener Stadt- und Landesarchiv, Landesgericht für Strafsachen LGStrS, A11, 1666/1934, Bd. IX, Schachtel 42, Hausdurchsuchung bei RJ, IX. Herbortgasse 43, Bericht des Bezirkspolizeikommissariat Simmering, 07.04.1934, S. 108-109, S. 109. Auch: DÖW, 05830.
[5] Vgl. Duma, Veronika, Rosa Jochmann. Politische Akteurin und Zeitzeugin, Wien 2019, 104-116.
[6] Vgl. Prinz, Elisabeth, Die Neue Frau als biopolitische Utopie. Eine Diskurslektüre, Wien 2009; homepage.univie.ac.at/elisabeth.prinz/NeueFrau/NeueFrau_Artikel_nurText.pdf (leider nicht mehr verfügbar). Vgl. auch Duma, Veronika/Yazdanpanah, Marie-Noëlle, The New Woman and Women’s Rights, in: McFarland, Rob/Spitaler, Georg/Zechner, Ingo (Hg.), The Red Vienna Sourcebook, erscheint 2010 (Camden House).
[7] Schlesinger, Therese, Frauenarbeit und proletarische Lebenshaltung, in: Arbeiter-Zeitung, 8.2.1925, 8. Vgl. auch Duma, Veronika/Yazdanpanah, Marie-Noëlle, The New Woman and Women’s Rights in: McFarland, Rob/Spitaler, Georg/Zechner, Ingo (Hg.), The Red Vienna Sourcebook, erscheint 2020 (Camden House).
[8] Ausführlicher dazu das Kapitel „Politik in der Krise“, in: Duma, Veronika, Rosa Jochmann. Politische Akteurin und Zeitzeugin, Wien 2019, 104-115. Gruber, Helmut, The „New Women“: Realities and Illusions of Gender Equality in Red Vienna, in: Gruber, Helmut/Graves, Pamela (Hg.), Women and Socialism. Socialism and Women. Europe Between the Two World Wars, New York/Oxford 1998, 56-94.
[9] Pirhofer, Gottfried/Sieder, Reinhard, Zur Konstitution der Arbeiterfamilie im Roten Wien. Familienpolitik, Kulturreform Alltag und Ästhetik, in: Mitterauer, Michael/Sieder, Reinhard (Hg.), Historische Familienforschung, Wien 1982, 326-369, 134. Ehmer, Josef, Soziale Traditionen in Zeiten des Wandels. Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert (= Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 20), Frankfurt a. M./New York 1994, 199-203.
[10] VGA, NRJ, K1M11, Anna Lichteneger an RJ, 19.01.1940.
[11] Vgl. Duma, Veronika, Rosa Jochmann. Politische Akteurin und Zeitzeugin, Wien 2019, 89.
[12] Vgl. Duma, Veronika, Rosa Jochmann. Politische Akteurin und Zeitzeugin, Wien 2019, 203.
[13] Vgl. Duma, Veronika, Rosa Jochmann. Politische Akteurin und Zeitzeugin, Wien 2019, 202-206. Veronika Duma, Veronika/Hajek, Katharina, Haushaltspolitiken. Feministische Perspektiven auf die Weltwirtschaftskrisen von 1929 und 2008, in: Kühschelm, Oliver (Hg.), Geld-Markt-Akteure, ÖZG 26 (2015) 1, 46-76.
Leave A Comment