Die junge Schriftstellerin und Feministin Grete Meisel-Hess (1879–1922) engagierte sich im von Misogynie geprägten bürgerlichen Wien und Berlin für eine „Sexualreform“. Diese sollte als Ausweg aus der kulturellen „Krise der Moderne“ dienen.
„Wien um 1900“ wird von der Geschichtsschreibung oft mit tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen in Verbindung gebracht: Bevölkerungszuwachs, divergierende politische Strömungen, kulturelle und künstlerische Blütezeit, Psychoanalyse sowie soziale Bewegungen wie die Frauenbewegung prägen unsere Wahrnehmung dieser Zeit. Die Stimmung rund um diese Umbrüche, die von manchen Zeitgenoss*innen pessimistisch als „Niedergang“ der europäischen Kultur wahrgenommen wurden, wurde später als „Krise der Moderne“ bezeichnet.[1]
Neben einer Reihe männlicher Zeitgenossen, die in ihrem künstlerischen oder literarischen Werk die „Krise“ sichtbar machten und später in der Geschichtswissenschaft breit erforscht wurden,[2] beteiligten sich auch österreichische Frauen an diesem Diskurs – eine davon war Grete Meisel-Hess, eine zeitgenössisch renommierte wie auch umstrittene Schriftstellerin, die in der Forschung stark unterrepräsentiert ist.[3]
Ruhm und Kontroverse
Grete Meisel-Hess wurde 1879 in Prag geboren und zog später mit ihrer Familie nach Wien, wo sie zu den ersten Studentinnen an der Universität Wien zählte. Ab dieser Zeit war sie literarisch tätig; ihr 1902 veröffentlichter Roman Fanny Roth. Eine Jung-Frauengeschichte wurde zum Bestseller und sorgte in jungen Jahren bereits für Bekanntheit – und für Kontroverse. Denn Meisel-Hess, die in diesem Roman vermutlich ihre erste, sehr kurze Ehe verarbeitete, übte offen Kritik am Konzept der bürgerlichen Ehe und thematisierte weibliches sexuelles Begehren und sexualisierte Gewalt, was als Tabu galt.
In ihren nicht-fiktionalen Werken, von denen Die sexuelle Krise (1909) ihr Hauptwerk darstellt, reflektierte Meisel-Hess ihre Theorien hinter den Handlungsrahmen ihrer Romane. Sie positionierte sich außerdem als vehemente Gegnerin des zeitgenössischen misogynen Diskurses, wie etwa an ihrem Text Weiberhass und Weiberverachtung (1904) zu erkennen ist, der eine Antwort auf Otto Weiningers frauenfeindliche und antisemitische Schrift Geschlecht und Charakter (1903) darstellt.[4]
Ausgehend von ihrer eigenen wohlhabenden gesellschaftlichen Stellung schrieb Meisel-Hess vorwiegend über die Situation bürgerlicher Frauen, sie äußerte sich jedoch auch kapitalismuskritisch und forderte bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen für Arbeiterinnen.[5]
„Die sexuelle Krise“
In Die sexuelle Krise plädierte Meisel-Hess für eine Reform der „Sexualordnung“, die sich ihrer Ansicht nach in einer Krise befand, da sie bürgerliche Frauen von sexueller Erfüllung und Mutterschaft abhielt. Damit in Zusammenhang stehend erkannte und kritisierte Meisel-Hess patriarchale Strukturen wie die wirtschaftliche Abhängigkeit und systematische Diskriminierung von Frauen.
Durch das moralische Verbot von vorehelichem Geschlechtsverkehr würden bürgerliche Frauen um die Auswahl eines geeigneten Partners beraubt, so Meisel-Hess. Zusätzlich führe der im Bürgertum gängige Altersunterschied zwischen Ehemann und Ehefrau sowie der ‚Zugang‘ zu Prostituierten zu einer biologischen Konstitution des Mannes, die alles andere als ideal sei für die Zeugung und Aufzucht von Nachwuchs.
Nach Meisel-Hess sollten Frauen ihre Partner frei wählen können und in ihrem Leben mehrere „Ehen auf Zeit“ haben dürfen. Dafür bedürfe es aber ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit, weshalb bürgerlichen Frauen Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten zugestanden werden sollten. Außerdem sollten uneheliche Kinder „durch das Gesetz und durch die moralische Wertung“[6] beschützt werden und somit ledige Mutterschaft aufgewertet werden. Denn Frauen sollten unabhängig von der Ehe und der Unterstützung durch einen Mann Kinder bekommen können.
Ihre Positionen zu Bildungsmöglichkeiten sowie ökonomischer und persönlicher Unabhängigkeit der Frau deckten sich weitgehend mit jenen des bürgerlich-radikalen Flügels der Ersten Frauenbewegung, wie sie beispielsweise der Allgemeine Österreichische Frauenverein (AÖFV) vertrat.[7] Meisel-Hess schrieb zwischen 1900 und 1901 fünf Artikel für die dem AÖFV nahen Zeitschrift Dokumente der Frauen, doch sie widmete sich in der Folge immer fokussierter den Themen des Mutterschutzes und, wie sie es selbst ausdrückte, der „Rassenhygiene“.
„Radikal“: Mutterschutz und Eugenik
In der Hoffnung, die sexuelle Doppelmoral und die starren Konventionen Wiens hinter sich zu lassen, zog Meisel-Hess 1908 nach Berlin, wo sie Mitglied und internationale Repräsentantin[8] des eugenisch orientierten Bundes für Mutterschutz und Sexualreform, einer vom bürgerlich-radikalen Flügel der deutschen Frauenbewegung ausgehenden Organisation, wurde.[9] Der Bund bot ihr einen Rahmen zur Weiterentwicklung ihrer theoretischen Konzepte, die durch die explizite Thematisierung von Sexualität Tabus brachen. In ihren Überlegungen bezeichnete Meisel-Hess die Frauenbewegung als „Zwischenstadium zur Mutterbewegung“ und erst die „Mutterbewegung“ würde einen Ausweg aus der „Krise“ der Zeit anbieten.[10]
Der „sexuellen Krise“ lag nach Meisel-Hess die „kapitalistische Wirtschaftsordnung“ zugrunde,[11] denn sie entziehe dem Mann jegliche Energie, habe aber durch die Unterdrückung der Frau und durch die bürgerliche Doppelmoral in erster Linie Frauen ins Unglück gestürzt und deshalb nachhaltig der „Rasse“ Schaden zugefügt.
Aus heutiger Sicht ist klar, dass die problematischen Theorien über „Rassenhygiene“ und Eugenik den Weg für die Ideologie des Nationalsozialismus ebneten.[12] Anfang des 20. Jahrhunderts wurden sie jedoch von vielen Zeitgenoss*innen als wissenschaftlich fortschrittlich verstanden und wie andere Feministinnen[13] nutzte auch Meisel-Hess diese Theorien, um Frauenrechte und Mutterschutz zu rechtfertigen: Unabhängigkeit, sexuelle Aktivität und Mutterschaft einer Frau sollen zugunsten der „Rasse“ gefördert werden – durch moralische und wirtschaftliche Reformen sollen alle „gesunden“ jungen Menschen Kinder bekommen können und der Gesellschaft so aus der „Krise“ helfen.
Eine ambivalente Theoretikerin
Meisel-Hessʼ radikale emanzipatorische Positionen zu weiblicher Sexualität sind in der heutigen geschichtswissenschaftlichen Wahrnehmung überschattet von ihren Theorien zu Rassenhygiene und unbedingter Mutterschaft. Ihre Positionen bestätigen jedoch die Vehemenz, mit der manche Feministinnen sich gegen die gängige Frauenfeindlichkeit stellten und sie zeigen ein Konzept der „Krise der Moderne“, das den kulturellen „Niedergang“ durch die patriarchale Geschlechterordnung und Sexualmoral begründet sieht und für das folgende Jahrhundert und darüber hinaus Relevanz behalten würde.
Anmerkungen
[1] Vgl. Walter Laqueur, Fin-de-Siècle: Once More with Feeling, in: Journal of Contemporary History, 31.1 (1996), 5–47; Jacques Le Rider, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität (Wien, 1990). Dieser Artikel fasst einen Teil der Erkenntnisse meiner Diplomarbeit zusammen, in der ich Grete Meisel-Hessʼ Konzepte von Geschlecht und Sexualität vor dem Hintergrund des Wiener Fin de Siècle analysierte, vgl. Doris Zimmermann, Die ‚sexuelle Krise‘ des Wiener Fin de Siècle. Geschlecht und Sexualität im nicht-fiktionalen Werk von Grete Meisel-Hess (Wien: Universität Wien, 2019). In zukünftigen Forschungsarbeiten möchte ich auch Meisel-Hess’ Entwicklung und Werk u.a. nach ihrem Umzug nach Berlin untersuchen.
[2] Vgl. u.a. Schorskes Studien zu „Jung Wien“, Carl E. Schorske, Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture (New York, 1980).
[3] Es existieren einige wenige tiefgehende Artikel über Meisel-Hess, u.a. Godela Weiss-Sussex, Radical Feminist and Belligerent Journalist Grete Meisel-Hess (1879–1922), in: Discovering Women’s History. German-Speaking Journalists (1900–1950), hg. von Christa Spreizer (Oxford, 2014), 17–40; Susanne Omran, Weib und Geist um 1900: Intellekt, Rasse und Instinkt in den Schriften von Grete Meisel-Hess, in: Die Philosophin, 19.1 (1999), 11–35; Ellinor Melander, Toward the Sexual and Economic Emancipation of Women: The Philosophy of Grete Meisel-Hess, in: History of European Ideas, 14.5 (1992), 695–713; Helga Thorson, Confronting Anti-Semitism and Antifeminism in Turn of the Century Vienna: Grete Meisel-Hess and the Modernist Discourses on Hysteria, in: Jüdische Identitäten. Einblicke in die Bewusstseinslandschaft des österreichischen Judentums, hg. von Klaus Hödl (Innsbruck/Wien/München, 2000), 71–94.
[4] Zu Meisel-Hess’ Argumenten gegen Weininger vgl. u.a. Thorson; Zimmermann.
[5] Zu Meisel-Hess’ Positionen zu sozialer Klasse vgl. Zimmermann, 28–33.
[6] Grete Meisel-Hess, Die sexuelle Krise. Eine sozialpsychologische Untersuchung (Jena, 1909), 63.
[7] Vgl. Harriet Anderson, Vision und Leidenschaft. Die Frauenbewegung im Fin de Siècle Wiens (Wien, 1994), 63–137.
[8] Vgl. Emilia von Ende, Now That the Cataclysm Confronts Them, Europe’s Feminists Who Fought for Motherhood Protection Ask Race Renewal – What For?, in: New York Tribune (New York, 6 September 1914), 7.
[9] Melander, 699. Über die Differenzierung der Begriffe „Rassenhygiene“ und „Eugenik“ herrscht Uneinigkeit in der Forschung. Zur Definition der Begriffe im Bund für Mutterschutz vgl. Anette Herlitzius, Frauenbefreiung und Rassenideologie. Rassenhygiene und Eugenik im politischen Programm der ‘Radikalen Frauenbewegung’ (1900–1933) (Wiesbaden, 1995), 125–97.
[10] Meisel-Hess, 277.
[11] Meisel-Hess, 364.
[12] Vgl. u.a. Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland (Frankfurt am Main, 1992).
[13] Vgl. Herlitzius, 192–197.
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