Unter der k.u.k. Verwaltung konnten Schariagerichte in Bosnien-Herzegowina weiterhin Ehe- und Familienangelegenheiten von Muslim*innen nach islamischem Recht verwalten und regulieren. Welche rechtlichen Möglichkeiten boten diese Gerichte Frauen, um gegen häusliche Gewalt vorzugehen?
Als 1878 die Habsburgermonarchie Bosnien-Herzegowina okkupierte, wurde die bisherige osmanische Gerichtsstruktur weitgehend beibehalten. Somit lag die Regelung von Ehe- und Familienangelegenheiten weiterhin in den Händen der religiösen Institutionen. Dies bedeutete, dass neben den Gerichten der katholischen und serbisch-orthodoxen Kirche sowie der jüdischen Gemeinde auch Schariagerichte über Ehekonflikte und Scheidungen urteilten, und zwar nach islamischem Recht der hanefitischen Rechtsschule.[1]
Islamisches Recht bot ─ etwa im Gegensatz zu katholisch-kanonischem Eherecht ─ durchaus die Möglichkeit der Auflösung einer Ehe.[2] Daher stellt sich die Frage, inwiefern Schariagerichte im habsburgischen Bosnien-Herzegowina Frauen dadurch einen größeren Handlungsspielraum bei häuslicher Gewalt boten.
Häusliche Gewalt vor dem Kadi
Die überlieferten Archivdokumente des sogenannten Schariaobergerichts, der 1879 in Sarajevo eingerichteten Berufungsinstanz gegen Urteile lokaler Kadis (Richter an Schariagerichten), zeigen, dass Frauen vor Schariagerichten immer wieder das Thema der häuslichen Gewalt ansprachen.
Dies war auch bei Behara Šekić aus dem nordbosnischen Städtchen Derventa der Fall:[3] Nachdem sie ihren Ehemann Omer ohne Scheidung verlassen hatte, klagte dieser sie im Juni 1885 vor dem lokalen Schariagericht „wegen des ehelichen Zusammenlebens“ an. Der Kadi urteilte hier, dass Behara tatsächlich zu ihrem Ehemann zurückkehren und mit ihm gemeinsam wohnen müsse, während Omer dazu verpflichtet sei, seiner Ehefrau Unterhalt zu leisten.
Da Behara sich mit diesem Urteil nicht zufrieden gab, legte sie beim Schariaobergericht Einspruch ein. Sie legte dar, dass sie ihren Ehemann deswegen verlassen habe, weil er sie geschlagen habe. Sie gab auch an, dass die Spuren der Schläge noch immer an ihrem Körper erkennbar seien.[4]
Strafrecht und körperliche Gewalt
Diese Aussage ist gerade aus strafrechtlicher Sicht interessant. Denn das Strafgesetzbuch für Bosnien und Herzegowina, das 1879 auf Grundlage österreichischen[5] Strafrechts verabschiedet wurde, räumte zwar ein „Recht der häuslichen Züchtigung“ ein, stellte aber „Misshandlung bei häuslicher Züchtigung“ durchaus unter Strafe. Diese lag nach § 407 dann vor, wenn „der Gezüchtigte am Körper Schaden nimmt“.[6]
Aus den archivierten Akten des Schariagerichts geht nicht hervor, ob sich Behara dieser Vorgabe überhaupt bewusst war. Nicht zuletzt lagen strafrechtliche Angelegenheiten auch nicht in der Kompetenz der Schariagerichte, sondern wurden von den „ordentlichen“ Zivilgerichten verwaltet. Denn bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die osmanischen Tanzimat-Reformen die Kompetenzen der Schariagerichte signifikant eingeschränkt. Und 1883 limitierten die k.u.k. Behörden die Rechtsprechung der bosnischen Kadis ausschließlich auf Ehe- und Familienangelegenheiten unter der muslimischen Bevölkerung.[7]
Eine strafrechtliche Verfolgung von Beharas Ehemann hätte daher ein separates Strafverfahren außerhalb der islamischen Rechtsprechung erfordert. Und dieses hätte keinen Scheidungsanspruch mit sich gebracht, da Ehescheidungen nach wie vor der Rechtsprechung der Schariagerichte unterlagen.
Körperliche Züchtigung im islamischen Recht
Nach islamischem Recht, das an Schariagerichten angewandt wurde und somit die Rechtsgrundlage für Beharas Fall bildete, galt eheliche Gewalt nicht als legitimer Grund, um gerichtlich eine Ehescheidung gegen den Willen des Ehemannes zu beantragen. Nicht zuletzt war dem Ehemann grundsätzlich erlaubt, die Ehefrau bei Verfehlung ihrer ehelichen Pflichten zu schlagen. Allerdings war unter islamischen Rechtsgelehrten umstritten, in welchen Fällen und in welchem Ausmaß körperliche Züchtigung in der Ehe angewandt werden sollte.[8]
In Beharas Verfahren wurde jedoch, wie auch in den meisten ähnlichen Fällen, das Thema häusliche Gewalt nicht explizit verhandelt, sondern lediglich die Frage der Gültigkeit der Ehe und der damit verbundenen rechtlichen Verpflichtungen, wie das Zusammenleben der beiden Ehepartner*innen sowie die Gewährung von Unterhalt durch den Ehemann.
Das Schariaobergericht, bei dem Behara gegen das Urteil des lokalen Schariagerichts Einspruch eingelegt hatte, entschied am Ende, dass das erstinstanzliche Verfahren nicht den Verfahrensregeln entsprochen habe und daher wiederholt werden müsse, ging aber nicht direkt auf die Frage der Gewalt und Misshandlung ein. Aus den Archivakten geht leider nicht hervor, ob und mit welchem Ergebnis das Verfahren wiederholt wurde.[9]
Limitierte Scheidungsmöglichkeiten für Frauen
Angesichts der Tatsache, dass die Schariagerichte bei Klagen wegen häuslicher Gewalt kaum eingriffen, hatten Frauen einen relativ geringen Handlungsspielraum gegen gewalttätige Ehemänner. Während nach islamischem Recht Männer jederzeit ihre bestehende Ehe (auch ohne Involvierung eines Kadis oder einer Behörde) auflösen konnten, hatten Frauen nur in sehr eingeschränkten Fällen (etwa bei Impotenz, Alkoholsucht oder Abfall vom Islam seitens des Ehemannes) die Möglichkeit, eine Ehescheidung ohne ausdrückliche Zustimmung des Ehemannes zu beantragen.[10]
Aufgrund dieser rechtlichen Bestimmungen reichten Frauen häufig Scheidungsklagen ein, während Männer eher wegen des „ehelichen Zusammenlebens“ vor Gericht gingen.[11] Dabei wandten Frauen verschiedene Strategien vor Gericht an, um trotz der rechtlichen Restriktionen eine Auflösung der Ehe zu erreichen und sich gegen häusliche Gewalt durch den Ehemann zu wehren.
Strategien zur Scheidung von einem gewalttätigen Ehemann
So auch Dudija Tokmazović: Da ihr Ehemann Mehmed sie nach ihren Angaben schlug und quälte, beantragte sie beim Schariagericht in Mostar die Auflösung ihrer Ehe. Dabei gab sie an, dass Mehmed „ihre Religion und ihren Glauben“ beschimpft habe, was weitere Zeugen bestätigen könnten. Da diese bei der anschließenden Zeugenvernehmung durch den Kadi die Beschimpfungen jedoch nicht bezeugten, wurde Dudijas Klage abgewiesen. Sie legte daraufhin Berufung gegen dieses Urteil ein, blieb aber aufgrund fehlender Beweise auch vor dem Schariaobergericht erfolglos.[12]
Dudijas Argument ist jedoch insofern interessant, als es auf die Möglichkeit der Scheidung im Falle, dass der Ehemann vom Islam abfällt, anspielt. Tatsächlich wurde in der osmanisch-islamischen Rechtspraxis Blasphemie häufig mit Apostasie vom Islam gleichgesetzt, wenn Frauen vor Gericht um Scheidung klagten.[13]
Letztlich scheiterte aber hier, wie in anderen ähnlich gelagerten Fällen, die Beweisführung vor Gericht. Die verschiedenen Strategien, mit denen Frauen vor Gericht eine Scheidung von ihrem gewalttätigen Ehemann ansuchten, blieben meist erfolglos.
Islamische Rechtspraktiken gegen Gewalt in der Ehe
In manchen Fällen, in denen Frauen Klagen wegen häuslicher Gewalt vor einem Schariagericht vorbrachten, versuchten Kadis, diese im Rahmen der verfügbaren Rechtsmittel vor ihrem gewalttätigen Ehemann zu schützen, ohne dass gleich die Ehe geschieden wurde. So verlangten manchmal Kadis, dass der Ehemann vor Bürgen einen Eid ablegte, dass dieser die Ehefrau gut behandeln und seinen ehelichen Pflichten (etwa in Bezug auf Unterhalt) nachkommen würde, wie im Fall von Emina Kadić aus Prijedor.
Auch sie hatte ihren Ehemann Abdul Hamid, mit dem sie seit ungefähr eineinhalb Jahren verheiratet war, im Frühjahr 1886 verlassen und war zu ihrem Vater gezogen. Abdul Hamid reichte daraufhin beim Schariagericht in Prijedor eine Klage gegen seine Frau „wegen ehelichen Zusammenlebens“ ein. Einige Wochen später beschuldigte Emina wiederum ihren Ehemann vor Gericht, sie ohne Grund beschimpft und geschlagen zu haben.
Der Kadi wies Eminas Klage zwar mangels Beweisen ab, forderte Abdul Hamid jedoch auf, zwei Bürgen zu benennen, die für sein Versprechen, seine Frau nicht mehr zu schlagen und zu beleidigen, einstehen sollten. Außerdem ordnete er an, dass Abdul Hamid für den Lebensunterhalt seiner Frau aufkommen müsse.[14]
Ungleiche Geschlechterverhältnisse und Handlungsmacht
Diese Praktik konnte wohl in manchen Fällen einen gewissen sozialen Schutz bieten. Gleichzeitig stellten Schariagerichte, wie die obigen Beispiele aufzeigen, Frauen kaum rechtliche Mittel zur Verfügung, um sich effektiv gegen häusliche Gewalt zu wehren. Dies lag letztlich daran, dass islamisches Recht unterschiedliche Rechte und Pflichten für Frauen und Männer definierte. Frauen hatten zwar durchaus Rechte, wie etwa den Anspruch auf Unterhalt durch den Ehemann. Doch gerade bei häuslicher Gewalt zeigte sich, dass Männer rechtlich bessergestellt waren.
Auch wenn Frauen im habsburgischen Bosnien-Herzegowina als aktive Akteurinnen vor Schariagerichten auftraten, hatten sie einen sehr eingeschränkten Handlungsspielraum gegen häusliche Gewalt. Diese Situation ist trotz der ehe- und familienrechtlichen Unterschiede durchaus vergleichbar mit anderen Regionen der Habsburgermonarchie.
Historische Studien zur gerichtlichen Aushandlung von Ehekonflikten in Österreich haben nämlich bereits aufgezeigt, dass sich Frauen regelmäßig vor Gericht über die Gewalt ihrer Ehemänner beklagten. Genauso waren auch dort solche Gerichtsverfahren oft eng mit den eingeschränkt vorhandenen Trennungs- und Scheidungsoptionen verknüpft und wiesen geschlechtsspezifische Handlungsräume auf.[15]
Abbildungen
Abb. 1: Sarajevo um 1900, Quelle: Österreichische Nationalbibliothek
Abb. 2: Scheriatsrichterschule in Sarajevo, Federzeichnung von Karl Panek, 1898, Quelle: Österreichische Nationalbibliothek
Abb. 3: Ansicht von Mostar, Aquarell von Rudolf Bernt, 1901, Quelle: Österreichische Nationalbibliothek
Abb. 4: Bericht des Kadi aus Prijedor an das Schariaobergericht im Gerichtsverfahren zwischen Abdul Hamid und Emina Kadić, Quelle: ABiH, VŠS, Box 17, B 1886-6.
Anmerkungen
[1] Vgl. Bećić, Mehmed: Das Privatrecht in Bosnien-Herzegowina (1878-1918). In: Konflikt und Koexistenz. Die Rechtsordnungen Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert. Band II: Serbien, Bosnien-Herzegowina, Albanien. Hrsg. von Thomas Simon. Frankfurt am Main 2017 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 305). S. 71–135, hier S. 72─79, 114─125.
[2] Vgl. Tucker, Judith E.: Women, Family, and Gender in Islamic Law. New York 2008 (Themes in Islamic Law 3), S. 92─100.
[3] Vgl. Arhiv Bosne i Hercegovine (ABiH), Vrhovni Šerijatski Sud (VŠS), Box 17, B 1885-2: Šekić Omer protiv žene Behare zbog zajedničkog življenja, Derventa [Šekić Omer gegen seine Frau Behara wegen ehelichen Zusammenlebens, Derventa].
[4] Vgl. ABiH, VŠS, Box 17, B 1885-2.
[5] Seit dem Ausgleich 1867 war die Habsburgermonarchie in eine ungarische (Transleithanien) und eine österreichische Reichshälfte (Cisleithanien) geteilt. Mit „österreichisch“ ist hier das in der österreichischen Reichshälfte geltende Recht gemeint.
[6] Strafgesetz über Verbrechen und Vergehen. In: Sammlung der für Bosnien und die Hercegovina erlassenen Gesetze, Verordnungen und Normalweisungen. II. Band. Justizverwaltung. Wien 1881. S. 79–162, hier S. 151–152, § 407, 413.
[7] Vgl. Bećić, „Privatrecht“, S. 114─122.
[8] Vgl. Tucker, Islamic Law, S. 55–56, 67–68, 92─100, 107.
[9] Vgl. ABiH, VŠS, Box 17, B 1885-2.
[10] Vgl. Tucker, Islamic Law, S. 84─100.
[11] Zwischen 1879 und 1899 reichten Frauen beim Schariaobergericht am häufigsten eine Klage wegen Unterhaltszahlungen (insgesamt 83 Klagen) ein, gefolgt von Klagen wegen Ehescheidungen (62 Klagen). Männer reichten in diesem Zeitraum am häufigsten Klagen (insgesamt 35) wegen „ehelichen Zusammenlebens“ ein, gefolgt von Klagen wegen Unterhaltszahlungen (25 Klagen). Vgl. ABiH, VŠS, Inventar: Vrhovni Šerijatski Sud za BiH pri Vrhovnom sudu za BiH [Schariaobergericht für B-H beim Obergericht für B-H], Sarajevo 1879–1946. I, S. 25–54.
[12] Vgl. ABiH, VŠS, box 28, B 1911-8: Pehilj Dudija protiv supruga Muhameda Tokmazovića zbog razvoda braka, Mostar [Pehilj Dudija gegen ihren Ehemann Muhamed Tokmazović wegen Scheidung der Ehe, Mostar].
[13] Vgl. Tucker, Islamic Law, S. 107–108.
[14] Vgl. ABiH, VŠS, Box 17, B 1886-6: Kadić Abdul Hamid protiv žene Emine Duratović zbog zajedničkog življenja, Prijedor [Kadić Abdul Hamid gegen seine Frau Emina Duratović wegen ehelichen Zusammenlebens, Prijedor].
[15] Vgl. Griesebner, Andrea: Eifersucht und häusliche Gewalt. Konturen einer (besitz-)ergreifenden Leidenschaft. In: Körper ─ Macht ─ Geschlecht. Einsichten und Aussichten zwischen Mittelalter und Gegenwart. Hrsg. von Anna Becker, Almut Höfert, Monika Mommertz u. Sophie Ruppel. Frankfurt am Main/New York 2020. S. 341–354, hier S. 345─346.
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